Antisemitismus geht uns alle an
Denn Judenhass ist Menschenhass
LP 1/2024 | Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Die liberalen Demokratien sind unter Druck geraten. Rechts- und Linksextremismus und Islamismus greifen die Fundamente der liberalen Demokratien an. Hinzu kommen welt- weite Krisen und Kriege, die zu Verunsicherung und Ängsten vieler Bürgerinnen und Bürger führen. In diesen herausfordernden Zeiten fallen antisemitische Verschwörungserzählungen auf fruchtbaren Boden. Und es sind nicht nur die Ränder oder spezielle Milieus, die sich hinter dem Antisemitismus versammeln. Antisemitische Vorurteile sind anschlussfähig bis in die Mitte unserer Gesellschaft und die Erscheinungsformen des Antisemitismus wandeln sich und passen sich aktuellen Gegebenheiten an.
Antisemitismus ist wieder alltäglich
Antisemitismus ist ein Problem für unsere gesamte Gesellschaft – auch wenn die Mehrheitsgesellschaft ihn nicht tagtäglich wahrnehmen mag. Denn gerade das macht ihn so gefährlich und die Entwicklung und Umsetzung wirksamer Strategien gegen Antisemitismus so herausfordernd. Antisemitismus hat nicht nur die Fähigkeit, über gesellschaftliche Grenzen hinweg anschlussfähig zu sein, er gehört zur Alltagsrealität von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Judenhass zeigt sich in Schulen, Universitäten, Kultureinrichtungen, am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum.
Antisemitismus kann sich in Wort und Tat ausdrücken sowie sich gegen nicht-jüdische Einzelpersonen richten. Antisemitismus beginnt demzufolge nicht erst dort, wo jüdische Personen angegriffen werden, sondern bereits in der Verbreitung von antisemitischen Symbolen in Bildern und Sprache. Oder um es mit einer These der Antisemitismusforschung zu sagen: Antisemitismus braucht keine Juden – das „Gerücht über die Juden“ (Zitat Theodor W. Adorno) ist entscheidend.
Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023
Insbesondere seit dem barbarischen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bricht sich Hass und Hetze auf den Straßen Bahn. Es hat sich seit dem Tag nicht nur die Situation in Israel verändert, sondern die für Jüdinnen und Juden weltweit. Antisemitische Vorfälle und Straftaten haben weltweit massiv zugenommen.
Seit dem Holocaust wurden an einem Tag nicht mehr so viele Jüdinnen und Juden um- gebracht wie am 7. Oktober 2023.
Schon kurz nachdem Terroristen der Hamas unschuldige Kinder, Frauen, Eltern und Alte angegriffen, vergewaltigt, bestialisch ermordet und entführt haben, wurden auf unseren Straßen Süßigkeiten verteilt, die Taten bejubelt und die Täter als Freiheitskämpfer glorifiziert. Der Terrorangriff der Hamas hatte nur ein Ziel: die Auslöschung Israels und jüdischen Lebens. Dieses Ziel verfolgt die Hamas nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern schon seit ihrer Gründung und hat dies explizit in ihrer Charta verankert. Ein Zitat aus der Charta: „Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, solange Muslime nicht die Juden bekämpfen und sie töten.“ Es ist mehr als beunruhigend, dass man immer wieder daran erinnern muss. Und es ist mehr als beunruhigend, dass überall in unserem Land junge Menschen, auch mit Migrationshintergrund, durch die Straßen ziehen und antiisraelische und antisemitische Parolen skandieren, das Kalifat fordern oder ein freies Palästina vom Jordan bis zum Meer, also ohne Israel, dass israelische Fahnen verbrannt wer- den und zum Hass und zu Gewalt gegen Juden aufgerufen wird. Das ist israelbezogener Antisemitismus. Das ist nicht mehr die natürlich von der Meinungsfreiheit gedeckte Kritik an der Politik der israelischen Regierung und ihres Premierministers Netanjahu. Dabei gibt es viel zu kritisieren. Die Israelis bringen das täglich mit beeindruckenden Demonstrationen zum Ausdruck. Nein, das ist von großer Emotionalität getragene Delegitimierung und Dämonisierung Israels. Diese wird ergänzt von rechtsextremen Narrativen, die mit ihrem Hass und ihrer Hetze gegen den Islam und alle Muslime scheinbar auf der Seite Israels stehen und doch mit ihrer völkischen, rassistischen Ideologie und der massiven Kritik an der Erinnerungskultur – beispielsweise das Holocaust-Mahnmal als Schandfleck bezeichnen – klar antisemitische Haltung zeigen. Es darf auch nicht vergessen werden, dass dem Rechtsextremismus nach wie vor ein Großteil antisemitisch motivierter Straftaten zugeordnet wird.
Zivilgesellschaft ist gefordert
Dem Antisemitismus in seinen vielfältigen Ausprägungen zu begegnen, ist nicht nur eine Aufgabe des Staates, der mit Polizei und Justiz konsequent und wirkungsvoll gegen strafrechtlich relevantes Verhalten vorgehen muss und dies auch zunehmend tut. Und der seit dem 7. Oktober noch stärker jüdische Einrichtungen wie Synagogen, jüdische Schulen und Kindergärten und Friedhöfe schützen muss. Denn es darf nicht sein, dass Jüdinnen und Juden aus Angst vor verbalen und gewaltmäßigen Übergriffen sich nicht trauen, in die Synagoge zu gehen oder ihre Kinder zur Schule zu schicken. Ohne eine aktive und verantwortungsbewusst handelnde Zivilgesellschaft geht es nicht. Judenhass ist Menschenhass und greift die Würde des Menschen an. Das betrifft uns alle, nicht nur Jüdinnen und Juden. Und so sind wir alle in der Verantwortung, an unserem Arbeitsplatz, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Schulen, in Universitäten und in den verschiedenen Kultureinrichtungen für Wertschätzung und für Toleranz den anderen gegenüber einzutreten und gegen antisemitische Hetze aufzustehen.
Antisemitismus in den Universitäten
Das hört sich einfach an, ist aber angesichts einer zunehmend radikalisierten Atmosphäre auch an den Orten des freien Diskurses und der sachlichen Auseinandersetzung wie den Universitäten gar nicht mehr selbstverständlich. Jüdische Studierende erleben immer häufiger antisemitische Vorfälle, Bedrohungsszenarien,
Störungen von Veranstaltungen und Vorlesungen. Hochschulleitungen agieren nicht nur aus Sicht der betroffenen jüdischen Studierenden nicht immer ausreichend. Hochschulen müssen aber Haltung zeigen. Einen offenen Diskurs mit Raum für die unterschiedlichsten Meinungen zum Nahostkonflikt zu ermöglichen, heißt nicht, sich neutral zum Antisemitismus zu verhalten. Denn Antisemitismus ist keine Meinung, sondern eine menschenverachtende Haltung, die durch nichts gerechtfertigt werden kann.
Oft fehlt es für jüdische Studierende an konkreten Ansprechpartnern in Hochschul- und Universitätsverwaltungen. Eine Ausnahme bildet die Universität Münster, die bislang als einzige Universität in Nordrhein-Westfalen und eine von wenigen in ganz Deutschland über einen Antisemitismusbeauftragten verfügt. Das empfiehlt sich für weitere Universitäten.
Antisemitismus-Prävention beginnt in der Schule
Bildung und Wissensvermittlung findet zuallererst an Schulen statt. Dort kommen Kinder und Jugendliche aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen, mit den unter- schiedlichsten religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen zusammen. Wir wissen durch verschiedene Studien, dass an dem Ort, an dem wir als Gesellschaft und Staat nahezu einmalig die Chance haben, systematisch und koordiniert Werte und Normen des toleranten und weltoffenen Miteinanders an junge heranwachsende Menschen zu vermitteln, Antisemitismus alltäglich auftritt.
Es ist daher unerlässlich, dass vor allem die Lehrkräfte für das Thema noch stärker sensibilisiert werden und sich fortbilden können. Eine meiner Hauptforderungen ist die verpflichtende Befassung mit dem Thema Antisemitismus in der Lehramtsausbildung. Es reichen nicht Curricula zu Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsstudium, sondern jeder angehenden Lehrerin und jedem Lehrer müssen Ursachen, Formen und aktuelle Situation des Antisemitismus im Studium vermittelt werden. Ohne Wissen können Lehrkräfte Antisemitismus weder in seiner Komplexität erkennen und ihm entgegentreten, noch sich mit dem immer wieder eskalierenden Nahostkonflikt im Unterricht befassen. Bei Schulklassen mit teilweise deutlich über 50 Prozent Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte ist das dringend geboten, wie sich nach dem 7. Oktober 2023 gezeigt hat. Denn die kulturellen Prägungen und das Verständnis von Israel sind sehr unterschiedlich.
Auch hier gilt, dass Lehrkräfte nicht neutral bleiben können und jede Meinung unwidersprochen im Raum stehenbleiben kann. Natürlich hat jeder Schüler das Recht, seine Meinung dazu zu haben und zu sagen. Neutralität darf aber keinesfalls dazu führen, antisemitische Hetze im Klassenzimmer oder auf dem Schulhof unwidersprochen zu las- sen. Denn es geht um die Grundlagen unseres Zusammenlebens und um die Verteidigung unserer Werte, wie der Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Interreligiöse Begegnungen und Austausch fördern
Um Hass und Hetze entgegen zu treten, müssen Vorurteile abgebaut und Vertrauen auf- gebaut werden. Dies geschieht am besten in Begegnungen – insbesondere interreligiösen. Gespräche mit Funktionären islamischer Verbände sind wichtig, aber besonders für Jugendliche verschiedener Religionen müssen sichere Räume für den Austausch angeboten werden. Dazu gibt es verschiedene Formate in Sport, Musik und Games, die nach dem 7. Oktober wiederbelebt werden müssen.
Auch im Bereich Migration gilt es, Maßnahmen und Projekte so weiterzuentwickeln und an- zupassen, dass möglichen gefestigten antiisraelischen Einstellungen und antisemitischen Weltbildern entgegen gewirkt wird. Eine Studie des Sachverständigenrates für Integration und Migration zeigt, dass der Schulbesuch in Deutschland zum Abbau antisemitischer Ressentiments entscheidend beiträgt, weil der Holocaust im deutschen Lehrplan eine zentrale Stellung einnimmt. Eine verstärkte Aufklärung über den Holocaust ist deshalb auch im Rahmen integrationspolitischer Maßnahmen sinnvoll. Hier bietet sich der verpflichten- de Integrationskurs für Neuzugewanderte an. Integrationskurse umfassen einen Sprachförderteil und einen Orientierungskurs zur Vermittlung von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und Geschichte in Deutschland. Eine deutlichere Schwerpunktsetzung mit den Themen Antisemitismus und jüdisches Leben bietet sich an. Auch Lehrkräfte der Integrationskurse sollten ein besseres Wissen über Antisemitismus und den Nahostkonflikt erlangen.
Miteinander gegen Antisemitismus
In allen gesellschaftlichen Bereichen kann und muss also mehr gegen Antisemitismus, gegen Vorurteile und für gegenseitiges Verständnis getan werden. Das fordert auch ein stärkeres Engagement der Zivilgesellschaft als bisher gegen Antisemitismus und Extremismus in ihrem ganz persönlichen beruflichen und privaten Umfeld.
In einem Interview zur Radikalisierung der deutschen Gesellschaft nach dem 30. Januar 1933 hat Hannah Arendt geschildert, wie es sich anfühlt, wenn Freunde einen ohne Not im Stich lassen und wie auch damit der Weg für die späteren Gräueltaten bereitet wurde:
„ … Das Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. (…) das habe ich nie vergessen.“
Dieser „leere Raum“ darf sich nie wieder bilden.