Erfahrungsbericht

Über den großen Teich und zurück

Eine ganz persönliche Ansicht von Einem der auszog

LP 1/2024 | Wolf B. Reuter
Ich lebe seit zehn Jahren als Deutscher in den USA. Genauer gesagt in Ann Arbor, Michigan, einer Universitätsstadt. Uni-Städte haben meist ein intellektuelles Flair. Die überwiegend jungen Menschen diskutieren hier noch manchmal gerne miteinander. Aber sobald man Ann Arbor verlässt, schweigt man besser. Rundherum ist „Trump-Land“.

Auch wenn die Noch-Gouverneurin von Michigan Gretchen Whitmer Demokratin ist, Ann Arbor ist von Feindesland umgeben. Überall am Rand der Highways sieht man überdimensionierte Billboards mit dem Kopf des womöglich künftigen Präsidenten und den Slogans: „Follow God, buy guns, vote Trump“. Da schweigt man besser im Gespräch mit Einheimischen. Bewaffnet wie diese oft sind, möchte man keine Meinungsverschiedenheiten provozieren.

Und mit all den vielen Evangelikalen lohnt das ohnehin nicht. Trump wird als Götterbote empfunden, der sich gegen die Abtreibung stark gemacht und den Supreme Court, das oberste Bundesgericht, mit frommen Richtern gespickt hat. Hallelujah, Donald! Gott, Gewehr und politischer Größenwahn haben einen scheinbar unüberbrückbaren Graben in die amerikanische Gesellschaft geschlagen. Ein Graben, der einzelne Staaten ebenso zerteilt wie Fernsehkanäle, Freundeskreise und Familien. Man ist entweder Trump-Fan ohne Rücksicht auf dessen juristische und moralische Defizite oder Biden-Wähler, ohne dass man den doch schon recht wackeligen Präsidenten eigentlich noch einmal im Amt sehen will. Man schaut entweder FOX News (Trump) oder CNN und MSNBC (Biden), wo man jeweils seine eigenen politischen Überzeugungen bestätigen lässt.

Eine ganz persönliche Ansicht von Einem der auszog von Wolf B. Reuter

Als sogenannter swing-state ist Michigan mit Blick auf die Präsidentenwahl im November 2024 von Demokraten und Republikanern hart umkämpft. Social Media schwappt aktuell über mit Spendenanfragen. In Amerika lassen Abgeordnete sich praktisch von den Wählern kaufen. Je mehr Geld in der Wahlkampfkasse klingelt, desto mehr Spots im TV, die den politischen Gegner beleidigen oder diffamieren, umso größer die Chancen gewählt zu wer- den. Parteiprogramme und politische Inhalte treten dabei in den Hintergrund. Die Medien selbst werden so zu gesellschaftlichen Spalter-Kanälen, anstatt sachlich zu informieren.

Im privaten Kreis vermeidet man das Thema Politik entweder komplett oder absentiert sich umgehend von der Gesellschaft der jeweils anderen Gruppierung. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens mehr, weder zum Thema Abtreibung, Grenzsicherung oder Migrantenschwemme noch zu Waffenbesitz, Schulbuchinhalten, Diversität oder was auch immer. Entweder oder. Schwarz oder weiß. Vom Atlantik bis zum Pazifik. Die Bürgerkriegslunte ist schon ausgelegt. Zum Glück fehlt bislang noch der letzte Funke, auch wenn immer mal wieder gezündelt wird: Gretchen Whitmer hat das zu spüren bekommen, als vor ein paar Jahren eine Gruppe schwer bewaffneter Männer vor ihrer Bürotür im Capitol von Michigan in Lansing „friedlich“ aufmarschierte, um ihr ein bisschen Angst zu machen. In Amerika darf jeder Bürger Waffen besitzen und sogar ins Parlamentsgebäude tragen.

Jeden Tag spürt man, dass das Miteinander der US-Bürger in ein Gegeneinander umgeschlagen ist und dass die einstige Strahlkraft amerikanischer Demokratie nur noch gelegentlich hinter der Nebelwand eines zunehmenden, beidseitigen Radikalismus flackert. Die einen sind aggressiv und demokratiemüde, weil sie von der Politik nie mitgenommen wurden. Die anderen fühlen sich schlichtweg hilflos und sind frustriert in Erwartung mehrheitsbildender, christlicher Dummheit.

Der tiefe Riss ist unverkennbar. Hier kollidiert die rechtliche Freiheit jedes Individuums, eine Waffe erwerben und tragen zu dürfen, mit der berechtigten Forderung nach Schutz der Bevölkerung vor Schießereien. Die Freiheit, sich im Alltag sicher fühlen zu können, versickert im Blut unzähliger Zufallspassanten, Synagogenbesucher oder Schulkinder, solange das Recht, eine Schusswaffe zu besitzen, im US- Kongress wie eine heilige Kuh verteidigt wird. Freiheit lässt sich leichter verteidigen, wenn alle in der Gesellschaft ein gleiches Verständnis von Freiheit haben. Wenn Freiheit aber für unterschiedliche Gruppierungen unterschiedliches bedeutet, kann auch das Bestehen auf bürgerlichen Freiheiten zu gesellschaftlicher Spaltung führen.

In den USA finden sich auf der reaktionären Seite die Verfechter der traditionell liberalen Forderung nach möglichst wenig Staat und möglichst großer individueller Freiheit. Er- schreckenderweise führt aber genau DAS ins Herz des Trumpismus: die Freiheit ZU etwas, z. B. sich nicht krankenversichern zu müssen, die Freiheit zahlungsunfähige Mieter auf die Straße setzen zu können, die Freiheit, Raub- bau am Planeten treiben zu können, Waffen zu tragen oder die Freiheit Homosexuelle oder Frauen zu diskriminieren. Die Freiheit des Individuums wird dabei lediglich für Gleichgesinnte beansprucht, aber nicht für Andersdenkende oder -fühlende. Und schon gar nicht für Asylsuchende an der Grenze zu Mexiko.

Wer demgegenüber in Amerika den Freiheitsbegriff als Freiheit VON Diskriminierung, Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeit begreift, wird von der rechten Hälfte der Amerikaner als liberal und unamerikanisch abgestempelt. Wer sich für eine Reform des Gesundheitssystems stark macht, wer sich gegen die Fremdbestimmung von Frauen oder zu hohe Universitätskosten engagiert, und wer sich für gesellschaftliche Diversität einsetzt, ist ebenfalls liberal, was für viele gleichbedeutend ist mit „radikaler Extremist“ bzw. „stinkende rote Socke“. Ich schaue mir das alles mit Sorge an, und denke, wie gut, dass ich immer noch meinen deutschen Pass habe.

Doch mein Blick über den Atlantik stimmt mich kaum hoffnungsvoller. Auch in der Bundesrepublik Deutschland zerreiben sich derzeit die bürgerlichen Freiheiten alter Couleur zwischen den zahllosen Ellbogen einer überdiversen, orientierungslosen Wählerschaft, die sich von ihren gewählten Repräsentanten kaum mehr wirklich vertreten fühlt.

Das Kirchgänger-Publikum früherer Jahrzehnte bekreuzt kaum noch die christliche Partei auf dem Stimmzettel. Der klassische Industriearbeiter ist der SPD abhandengekommen. Die bürgerliche Mitte hat längst vergessen, was liberal bedeutet und wofür die FDP einmal stand. Die grüne Friedensbewegung hat ihren Marsch in die Parlamente beendet und plädiert heute für mehr Waffenlieferungen ins Ausland. Den Linken haftet nach wie vor ein SED-Geschmäckle an, und überhaupt: links hat sich seit dem Mauerfall ohnehin überholt‚. Na ja, und die vielen Splitterparteien sind allenfalls albern.

Die Aufsplitterung in mitunter unüberschaubar mannigfaltige Kultureinheiten (eigentlich ja eine Bereicherung), der überbordende Individualismus gepaart mit diesem Zukunftspessimismus der neuen Art, all das verwässert zunehmend das Gefühl für Gemeinsames, für eine persönliche Verantwortung für die allgemeine gesellschaftliche Freiheit, für nationale und demokratische Identität. Dieser verlorene Boden wird derzeit allzu erfolgreich von der AfD beackert.

So wie Trump die Republikanische Partei in eine ihm ergebene populistische Bewegung umgemodelt hat, entwickelt sich die AfD zum Auffangbecken der Vergessenen, Frustrierten und Beleidigten. Das hat enormes Spaltpotential. Die rechte Egge hat den demokratischen deutschen Mutterboden bereits ansatzweise aufgerissen und die Furchen dürsten nach dem Samen von Autokratie, Protektionismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.

Gegenwärtig kommt die Freiheit, die ich meine, völlig unter die Räder der Gegenwart. Für viele Menschen sowohl in den USA als auch in Deutschland scheint Freiheit lästig geworden zu sein. Jedoch Freiheit verlangt einen kämpferischen Geist, nicht Kampfeslust. Freiheit verlangt Verantwortung, nicht Verschwörung. Freiheit verlangt Respekt, nicht Verachtung.

Wie selig, wie glücklich, wie stolz auf mein Heimatland war ich dann dieser Tage, als ich im US-Fernsehen sah, dass sich das anständige, das begreifende Deutschland aus seinem Ego-Tran erhob, und sich zu Hundert- tausenden auf die Straßen und Plätze begab, um endlich Flagge zu zeigen für Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Es ist für mich nicht immer einfach, in Amerika zu leben und dabei selbstbewusst deutsch zu sein. Danke, liebe Leute in Germany, dass Ihr mir das Leben hier drüben vorerst erleichtert habt. Ich bin wieder richtig stolz auf Euch.

Wolf B. Reuter

Wolf B. Reuter

Wolf B. Reuter ist ein deutscher Gymnasiallehrer, Journalist und Lokalpolitiker, der seit 2014 in Michigan (USA) lebt. In den 80/90er Jahren war er als Reporter und Moderator u. a. für WDR, NDR, SWF3 und Radio Bonn Rhein-Sieg tätig. Außerdem war er langjähriger persönlicher Assistent des früheren stv. FDP-Fraktionsvorsitzenden NRW Rudolf Wickel. Heute tritt Reuter regelmäßig in Michigan als Musiker und Singer/Songwriter in Erscheinung.