Soziale Marktwirtschaft unter Druck
Wie Demografie, Deglobalisierung und Klimawandel den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen
LP 1/2024 | Dr. Thieß Petersen
Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft ist die beste Kurzform zur Beschreibung des deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Ihr zentrales Versprechen ist Wohlstand für alle. Die Einhaltung dieses Versprechens wird angesichts der Alterung der Bevölkerung, zunehmender geopolitischer Konflikte und des Klimawandels immer schwieriger. Damit der mit diesen veränderten Rahmenbedingungen verbundene Strukturwandel gelingen kann, braucht Deutschland eine Stärkung seiner Wettbewerbsfähigkeit, ohne dabei den sozialen Zusammenhalt zu schwächen – denn sonst drohen soziale Spannungen und politische Blockaden.
Blick zurück: Drei Jahrzehnte mit wachstumsfreundlichen Rahmenbedingungen
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren seit der deutschen Wiedervereinigung weltweit außerordentlich wachstumsfreundlich. Nicht nur in Deutschland waren die Babyboomer im erwerbsfähigen Alter, wodurch ein hohes Beschäftigungsniveau, eine hohe Produktivität und ein hohes Produktionsvolumen erzielt werden konnten. Gleichzeitig wurden weltweit Importzölle und andere Handelshemmnisse abgebaut sowie Freihandelsabkommen geschlossen, was den internationalen Handel intensivierte und somit dem exportorientierten deutschen Wirtschafts- und Wachstumsmodell sehr entgegenkam. Zudem wirkte sich der Fall des Eisernen Vorhangs positiv auf die Konsumgüterproduktion aus, denn durch die Reduktion der Militärausgaben konnten die Produktionskapazitäten anstelle von Panzern und Munition für die Herstellung von Konsumgütern genutzt werden. Last, but not least waren die Preise für viele natürliche Rohstoffe relativ niedrig, die klimabedingten Schäden hielten sich in Grenzen und der globale Temperaturanstieg fand kaum Beachtung.
Rahmenbedingungen dieser Art sind die Voraussetzung für ein stabiles Wirtschaftswachstum, das über staatliche Umverteilungsmaßnahmen wiederum eine breite Teilhabe der Bevölkerung an den wirtschaftlichen Erfolgen ermöglicht und sich so positiv auf den sozialen Zusammenhalt auswirkt.
Blick nach vorne: Globale Rahmenbedingungen dämpfen das Wachstum
Es deutet sich bereits seit einigen Jahren an: Die zuvor beschriebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werden sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aufgrund verschiedener Auslöser umkehren – und zwar gleichzeitig.
Die Bevölkerung altert zukünftig weltweit, auch in China. Deutschland belegt dabei nach Japan den zweiten Platz der am schnellsten alternden Länder. Die Folge: Arbeitskräftemangel, nachlassende Produktivität und sinkende Investitionsmöglichkeiten. Parallel wird die internationale Arbeitsteilung zunehmend durch geopolitische Spannungen geprägt und der Protektionismus ist seit der globalen Wirtschaftskrise 2008/09 wieder auf dem Vormarsch. Neben Importzöllen kommen vermehrt auch Export- und Importverbote sowie Wirtschaftssanktionen zum Einsatz – was vor allem die Exportnation Deutschland trifft. Und auch die Friedensdividende geht verloren.
Darüber hinaus wirken sich die klimabedingten Schäden negativ auf die gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten aus: Kühlwassermangel führt zu Produktionsunterbrechungen, Hitze und Wassermangel reduzieren die Ernteerträge und Wetterextreme wie Starkregen mit Überschwemmungen zerstören Produktionsanlagen, Verkehrswege und andere Infrastruktureinrichtungen.
Die Kombination dieser wachstumsdämpfenden Effekte macht es zunehmend schwierig, das Versprechen „Wohlstand für alle“ einzuhalten. Das kann sich negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken, denn große Teile der Bevölkerung nehmen diese Entwicklungen bereits wahr. Sie befürchten, dass es ihnen oder ihren Kindern bzw. Enkelkindern künftig nicht mehr so gut gehen wird wie den Vorgängergenerationen. Gleichzeitig wird ganz deutlich: Das aktuelle Geschäftsmodell Deutschlands – also eine starke Exportorientierung mit einem hohen Anteil des energieintensiven verarbeitenden Gewerbes – muss sich an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen.
In dieser Gemengelage nimmt die Verunsicherung zu und die Kompromissbereitschaft ab, was zur Folge hat, dass soziale Spannungen entstehen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen und zu einer politischen Polarisierung führen können.
Wie gut ist Deutschland auf die anstehenden Aufgaben vorbereitet?
Ein Blick auf die aktuelle wirtschaftliche Situation Deutschlands zeigt Licht und Schatten. 2023 war Deutschland das einzige G7-Land, dessen reale Wirtschaftsleistung mit einem Minus von 0,3 Prozent leicht schrumpfte. Das langfristige Wirtschaftswachstum ist jedoch nach wie vor relativ stabil – zwischen 1991 und 2023 wuchs die deutsche Wirtschaft im Durchschnitt um rund 1,2 Prozent pro Jahr. Und: 2023 hat Deutschland nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IMF) Japan als drittgrößte Volkswirtschaft abgelöst – eine hoch entwickelte Industrienation, die mit derzeit rund 123 Millionen Menschen eine deutlich größere Bevölkerung als Deutschland hat (84,7 Millionen Ende 2023).
Auf dem Arbeitsmarkt hat die Beschäftigung seit 2005 stark zugenommen. Während in Deutschland zwischen 1992 und 2005 rund 38 bis 39 Millionen Erwerbstätige einer Arbeit nachgingen, wuchs diese Zahl seitdem kräftig und erreichte 2023 mit jahresdurchschnittlich fast 46 Millionen Erwerbstätigen einen Rekordwert. Die für internationale Vergleiche verwendete Erwerbslosenquote lag 2022 und 2023 bei rund 3 Prozent – das ist nahe an der Vollbeschäftigung. Kehrseite dieses Erfolgs: Der Fachkräfte- und der Arbeitskräftemangel werden immer spürbarer.
Bei den Innovationen ist in den letzten Jahren einerseits zwar ein nachlassender Output zu konstatieren – vor allem im Bereich der digitalen Technologien liegt Deutschland weit hinter den USA und China zurück. Andererseits zeichnet sich das Land auch weiterhin durch ein Technologieprofil mit vielen Stärken und einem innovativen Mittelstand aus. Auch die hohen Exportüberschüsse der letzten zwei Jahrzehnte zeigen, dass deutsche Produkte auf den Weltmärkten attraktiv sind.
Überdurchschnittlich gut ist das Abschneiden Deutschlands im Hinblick auf die Staatsverschuldung, denn diese ist im internationalen Vergleich relativ niedrig. Nach Schätzungen des IMF machten die Schulden des Staates 2023 rund 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Das ist der mit Abstand niedrigste Wert aller sieben großen Wirtschaftsnationen. Im Vereinigten Königreich lag diese Quote bei 104 Prozent, in den USA bei 123 und in Japan sogar bei 255 Prozent.
Alles in allem kann daher festgehalten werden: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands steht unter Druck, aber die nach 1999 im Jahr 2023 vom „Economist“ wieder einmal zum kranken Mann Europas gekürte deutsche Volkswirtschaft steht nicht so schlecht da, wie in der aktuellen Berichterstattung vielfach geschildert. Dennoch steht das Land vor erheblichen Anpassungsprozessen.
Was ist zu tun?
Fakt ist: Die anstehenden Aufgaben (Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, Maßnahmen zur Reduzierung der Importabhängigkeit bei kritischen Gütern, Anpassung des gesamtwirtschaftlichen Produktionsapparates an eine alternde Gesellschaft, Ausbau der Verteidigungsfähigkeit) stellen einen spürbaren Strukturwandel dar – mit Gewinnern und Verlierern. So ist etwa in schrumpfenden Wirtschaftsbereichen, also vor allem in Sektoren mit emissionsintensiven Technologien und Produkten, mit spürbaren Einkommens- und Arbeitsplatzverlusten zu rechnen.
Damit sich die Menschen nicht gegen die notwendigen Anpassungen sperren, brauchen sie die Gewissheit, dass ihnen die Solidargemeinschaft im Notfall hilft. Diese Unterstützung ist jedoch nur auf Basis einer stabilen und leistungsfähigen Wirtschaft möglich – schließlich können Konsumgüter nur fair verteilt werden, wenn sie vorher produziert wurden.
Ziel muss es daher sein, auch in Zukunft einen möglichst hohen materiellen Wohlstand zu erwirtschaften, dabei aber gleichzeitig zentrale Restriktionen zu beachten – allen voran das Ziel eines klimaneutralen Deutschlands im Jahr 2045 und den Erhalt des sozialen Zusammenhalts. Dies erfordert einen umsichtigen Umgang mit zahlreichen Zielkonflikten. Für entsprechende Lösungsansätze gibt es in anderen Ländern bereits gute Beispiele, von denen hier zwei genannt werden sollen.
Beispiel 1
Aufgrund der demografischen Alterung Deutschlands ist eine Reform im Bereich der Altersversorgung unumgänglich. Dafür ist ein Maßnahmenpaket notwendig, das von allen Beteiligten Opfer verlangt. Eine mögliche Stellschraube ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die zum Beispiel bereits in Dänemark praktiziert wird. Dort wird das gesetzliche Eintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt – steigt sie, verschiebt sich der altersbedingte Berufsaustritt nach hinten. Für Deutschland gibt es bereits ähnliche Vorschläge, nach denen beispielsweise ein Anstieg der Lebenserwartung um ein Jahr wie folgt verteilt wird: Zwei Drittel dieser gewonnenen Lebenszeit werden für die Erwerbstätigkeit genutzt und ein Drittel für den Rentenbezug.
Beispiel 2
Um bis 2045 klimaneutral zu werden, wird der CO2-Preis in Deutschland in den nächsten Jahren spürbar steigen. Gleichzeitig gilt es, klimaschädliche Subventionen abzubauen. Die daraus hervorgehenden Belastungen sind vielfältig: Für Verbraucher bedeutet das steigende Konsumgüterpreise, für Pendler höhere Fahrkosten und für die Beschäftigten in energieintensiven Branchen verschlechterte Beschäftigungschancen mit sinkenden Einkommen. Um diese Folgen abzumildern, bietet sich die Rückverteilung der Einnahmen aus der CO2-Bepreisung an. In der Schweiz geschieht dies wie folgt: Ein Drittel der Einnahmen wird zur Unterstützung der energetischen Sanierung von Gebäuden und für erneuerbare Heizenergien verwendet, zwei Drittel fließen an die Bevölkerung und die Unternehmen zurück. Die Bürger erhalten dabei einen Pauschalbetrag pro Kopf, die Unternehmen einen Geldbetrag entsprechend ihrer Lohnsumme.
Um den sozialen Zusammenhalt im anstehenden Strukturwandel nicht zu verlieren, müssen besonders belastete Personen also unterstützt werden. Welche ökonomischen Nachteile dabei kompensiert werden sollten, ist eine Frage von gesamtwirtschaftlichen Präferenzen und Werturteilen – und somit eine, die sich nicht rein wissenschaftlich beantworten lässt. Vielmehr kann diese Entscheidung in einer Demokratie nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen politischen Diskussion getroffen werden. Dabei muss aber eines klar sein: Nicht alle Einkommens- und Kaufkraftverluste können durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen ausgeglichen werden. Bei den anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen werden einzelne Personen reale Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. Dies sollte deutlich und transparent kommuniziert werden.
Wichtig ist dabei, umwelt-, wirtschafts- und sozialpolitische Argumente nicht gegeneinander auszuspielen, denn erstens ist eine gute Klimapolitik langfristig auch eine gute Wirtschaftspolitik, weil es ohne ein gesundes Ökosystem auch kein gesundes ökonomisches System geben kann. Und zweitens ist auch eine gute Sozialpolitik langfristig eine gute Wirtschaftspolitik, denn im Fall zunehmender sozialer Spannungen drohen Streiks und Verunsicherungen, die sich negativ auf die Standortattraktivität Deutschlands auswirken.
Für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik wird es darauf ankommen, eine positive Vision einer nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft zu entwickeln, die möglichst viele Bürger als erstrebenswerte Zukunftsvorstellung betrachten und teilen. Dies ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Bevölkerung die schwierigen, aber notwendigen Transformationsschritte gemeinsam trägt.