LP Ausgabe 2-2024 Editorial der Chefredakteurin Britta Lübke.

Der Sozialismus der dummen Kerle

Ein kritischer Blick auf die identitätspolitische Linke

LP 2/2024 | Lars Distelhorst

Der Sozialismus der dummen Kerle“ – so bezeichnete Adorno den Antisemitismus 1962 in seinem Vortrag „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“. Und spätestens mit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 scheint sich dieses Bonmot wieder einmal bewahrheitet zu haben.

Dass Antisemitismus gesellschaftlich betrachtet noch immer ein weit verbreitetes Problem ist, stellt seit langem eine durch einschlägige Diskriminierungsstudien und zahlreiche Berichte von in Deutschland lebenden Juden hinreichend dokumentierte Tatsache dar. Wie weit verbreitet dieses Phänomen auch in der zurzeit tonangebenden identitätspolitischen Linken ist, stellt ein oft übersehenes Thema dar. Schließlich assoziieren die meisten Menschen mit Antisemitismus nicht die Linken, deren Anliegen vordergründig betrachtet immer in der Überwindung von sozialer Ungleichheit, gesellschaftlichem Ausschluss und Diskriminierung gelegen zu haben scheinen.

Was lange unter der Oberfläche vor sich hingeköchelt hatte, brach sich unmittelbar nach dem 7. Oktober dann ungehindert Bahn. An den Universitäten schossen die Palästina-Solidaritätscamps wie Pilze aus dem Boden (zum Teil mit Unterstützung der Lehrenden und weitgehend unbehelligt von der Leitungsebene), nach der Vernichtung des israelischen Staates schreiende Parolen wie „from the river to the sea“ erschollen auf den Straßen und breite Teile der internationalen und deutschen „Linken“ überboten sich gegenseitig mit offenen Briefen und Stellungnahmen zugunsten Palästinas (wobei die Geiseln der Hamas zum Teil nicht einmal Erwähnung fanden oder bestenfalls pro forma abgehandelt wurden).

Der Sozialismus der dummen Kerle

Verschwinden in der politischen Bedeutungslosigkeit

Solidarität für Juden und den Staat Israel suchte man bis auf wenige Ausnahmen in der identitätspolitischen Linken vergebens. Seitdem ist es um diese in den letzten Jahren so laute und tonangebende Strömung linken Denkens still geworden und angesichts ihres totalen Scheiterns im Angesicht einer komplexen Krise mit globalen Auswirkungen erscheint ihr Verschwinden in der politischen Bedeutungslosigkeit aktuell mehr als wahrscheinlich. Wie konnte es dazu kommen?

Um dies zu klären ist es sinnvoll, ein paar Schritte zurückzutreten und den Blick von den großen Ereignissen auf die kleinen zu lenken. Noch vor zwei oder drei Jahren ging der Begriff „kulturelle Aneignung“ verstärkt durch die Medien und führte bei vielen Menschen zu großer Unsicherheit. Zur Erinnerung: Als kulturelle Aneignung wird in der rassismuskritischen Diskussion die ungefragte Übernahme von Elementen einer ehemals kolonisierten oder ausgebeuteten Kultur durch eine dominante Kultur bezeichnet.

Definitionen wie diese haben auf allen Seiten zu vielen Missverständnissen geführt, da oft nicht auf die Machtverteilung geachtet und die Kritik an kultureller Aneignung pauschal als Ablehnung von Kulturaustausch interpretiert wurde. Vom Seniorinnenballett bei der Bundesgartenschau über den Film „Der junge Häuptling Winnetou“ bis hin zum „Chinesenfasching“ in Dietfurt – zum Aufreger taugte plötzlich alles Mögliche, sofern es sich nur irgendwie in die Schablone „kulturelle Aneignung“ einfügen ließ.

Diese Aufreger kamen natürlich nicht aus dem Nichts. Angestoßen wurden sie in der Regel von in der Öffentlichkeit im Namen linker Identitätspolitik geäußerten Vorwürfen des Rassismus und kultureller Ausbeutung. Und hier wird es interessant. Wer sich mit dem Begriff der kulturellen Aneignung und seiner Geschichte beschäftigt, wird bei einiger Recherche auf eine bis in die 70er Jahre zurückreichende Diskussion stoßen, die ursprünglich aus der Kunstgeschichte stammend auf Gebiete wie Musik, Kunst und die Kultur im Allgemein übertragen wurde, um schließlich in der breiten Öffentlichkeit anzukommen.

Schlampige Übersetzung des Begriffs

Betrachtet man die Geschichte dieser Diskussion nüchtern, kann die Aufregung um den Begriff nur verwundern. Zunächst einmal wurde er schlampig übersetzt. Wo das englische „appropriation“ auf den Kontext der widerrechtlichen Aneignung von Eigentum verweist, wird dieser Zusammenhang von der wörtlichen deutschen Übersetzung als „Aneignung“ unsichtbar gemacht. Besser wäre es gewesen, „cultural appropriation“ als „Kulturdiebstahl“ zu übersetzen. Das hätte der deutschen Debatte sicherlich so manches Missverständnis erspart.

Des Weiteren ist der Begriff in der englischsprachigen (vor allem US-amerikanischen) Diskussion vor allem mit Blick auf Fragen der Verteilung und Eigentumsverhältnisse angewendet worden. Warum gilt Elvis noch heute vielen als Erfinder des Rock ‘n‘ Roll? Wieviel haben seine schwarzen Vorgänger eigentlich vom Kuchen abbekommen? Wo kommt der Inhalt unserer ethnologischen Museen her? Und sollte man das nicht zurückgeben? Hat ein Film wie Pocahontas etwas mit der wirklichen Geschichte indigenen Lebens in Nordamerika zu tun oder ist diese vielleicht eher mit dem Ziel der Profitmaximierung durch einen kulturindustriellen Fleischwolf gedreht worden?

Fragen wie diese sind wichtig und lassen sich mit dem Begriff der kulturellen Aneignung (oder besser des kulturellen Diebstahls) produktiv diskutieren. Auffallend ist allerdings, wie wenig dies geschehen ist. Die öffentlichen Aufreger um kulturelle Aneignung setzten stets bei Banalitäten wie den weiter oben genannten an: Wer tritt wo in welchem Kostüm auf, wer hat sich welche Frisur gemacht und vor allem: Dürfen die das eigentlich, wo sie doch weiß sind (und vielleicht auch noch männlich, hetero und cis, um das Maß voll zu machen)?

Starke Aufladung der öffentlichen Debatte mit Affekten

Bei der Frage nach dem Warum dieser Entwicklung schließt sich langsam der Kreis zum Beginn dieses Artikels. Denn hinter der Oberflächlichkeit der Debatte um kulturelle Aneignung verstecken sich Probleme, die sich im kompletten Spektrum linker Identitätspolitik wiederfinden lassen und ausschlaggebend für deren Scheitern sind. An der öffentlichen Debatte über kulturelle Aneignung und Identitätspolitik fällt zuallererst ihre starke Aufladung mit Affekten auf. Ist ja klar, mögen da viele sagen: Schließlich wird sie von Menschen getragen, die seit langem unterdrückt werden und die mittlerweile keine Lust mehr haben, immer wieder ellenlang das Offensichtliche zu beweisen, indem sie die Rolle von Rassismus oder Sexismus in der Gesellschaft und nicht zuletzt auch für ihre persönlichen Biografien betonen.

Bei kurzem Nachdenken wird man hier allerdings stutzig. Schließlich sind die aktuellen Protagonisten und Protagonistinnen der Identitätspolitik keineswegs die ersten, die sich mit Problemen dieser Art auseinandersetzen, unterscheiden sich von ihren Vorgängern wie z.B. Martin Luther King oder James Baldwin durch ihren Ton aber erheblich. Zumal ist ein solches Argument paternalistisch, da es unterdrückten Menschen pauschal unterstellt, sie hätten Probleme mit der Gefühlsregulation und seien deswegen zu nüchternem analytischen Denken nur eingeschränkt in der Lage. Und nicht zuletzt sind es überwiegend weiße Menschen der gebildeten Mittelschicht, die sich mit entsprechenden öffentlichkeitswirksamen Anklagen hervortun und allein schichtbedingt dürften nur wenige von ihnen Diskriminierung und Ausschluss am eigenen Leib erfahren haben.

Was bei der Diskussion über kulturelle Aneignung und verwandte Themen neben allen logischen Inkonsistenzen vor allem auffiel, war ihr in zu großen Teilen autoritärer Tonfall. Wo in der akademischen Diskussion vor allem auf strukturelle Merkmale des Rassismus und des Fortwirkens der Kolonialgeschichte verwiesen wurde, erschien es in der öffentlichen Diskussion oft so, als würde den zu Zielscheiben aktueller Vorwurfstriaden auserkorenen Menschen unterstellt, sie hätten sich bereits morgens beim Aufstehen vorgenommen, die Welt um sie herum rassistisch (oder wahlweise sexistisch, transphob oder ähnliches) zu beleidigen. Der autoritäre Tonfall war bei vielen dieser Vorwürfe ebenso wenig zu überhören wie die dahinter verborgene autoritäre Charakterstruktur.

Relevanzverlust der Philosophie des Poststrukturalismus

Dies hat verschiedene Gründe. Der eine ist recht einfach, dürfte aber trotz allem eine gewichtige Rolle spielen. Die für die heutige Identitätspolitik grundlegenden Diskurse der Queertheorie und der Postkolonialität wurzeln tief in der Philosophie des Poststrukturalismus. Diese galt nicht nur seit jeher als äußerst schwer zugänglich und zum Teil hoch spekulativ (zum Teil wurde sie auch schlicht als „eleganter Unsinn“ bezeichnet), sondern erreichte zudem spätestens in den 90ern des letzten Jahrhunderts ihren akademischen Zenit und ist seitdem einem fortwährenden Relevanzverlust ausgesetzt.

Was diese Form des Denkens allerdings geschafft hat wie vor ihr wohl nur die Aufklärung und der historische Materialismus, besteht in ihrem schrittweisen Eindringen in grundlegende Denkmuster politischer Strömungen der Linken, allen voran der identitätspolitischen Bewegung. Wie bei jedem Trickle-Down-Effekt blieb auch hier vieles auf der Strecke. Verloren gingen in diesem Fall vor allem die Komplexität und die Interpretationsoffenheit des Poststrukturalismus, der als engagiertes Plädoyer für die Differenz, die Verabschiedung finaler Wahrheiten und damit als Kritik jeder Form des Autoritarismus angetreten war.

Von derartigen theoretischen Bezügen ist die heute verbreitete Spielart von Identitätspolitik weitgehend frei. Dass die Szene sich in ihrem Engagement vor allem auch der Sozialen Medien bedient, verkompliziert diesen Befund zusätzlich. Am Ende eines Instagram-Posts bleibt von Poststrukturalismus, Queer Theorie und Postkolonialität nicht mehr übrig als Spruchweisheiten, die mit den Büchern von Jacques Derrida, Judith Butler oder Edward Said in etwa so viel gemeinsam haben wie Schweinchen Dick mit dem Ulysses.

Die Essenz des identitätspolitischen Diskurses besteht infolgedessen in der Behauptung, die soziale Wirklichkeit sei eine diskursiv hergestellte Konstruktion, weswegen es jede Äußerung auf etwaige Diskriminierungs- und Ausschlussmechanismen zu hinterfragen gelte. Wer sich falsch ausdrückt (wozu im Zweifelsfall auch nicht sprachliche Formen des Ausdrucks wie Tanz, Mode, Malerei oder ähnliches gehören), macht sich dieser Vorstellung nach nicht nur eines schnell zu korrigierenden Faux-Pax schuldig, sondern wirkt direkt am Aufbau und Unterhalt diskriminierender gesellschaftlicher Strukturen mit.

Folgenschwerer logischer Fehler

So weit, so gut. Wenn in dieser Rechnung nicht ein folgenschwerer logischer Fehler stecken würde. Denn sprachtheoretisch betrachtet steht hinter solchem Denken ein äußerst vereinfachtes Verständnis des sprachlichen Zeichens. Dieses zerfällt im identitätspolitischen Diskurs in zwei Teile: Einerseits das Wort selbst und andererseits den damit bezeichneten Vorstellungsinhalt. Würden sich also alle einfach anders ausdrücken, würde sich in diesem Zuge auch ihr Denken ändern, so die Überzeugung. Hinter der Aufforderung, sich anders auszudrücken (diskriminierungssensibel oder wie auch immer), verbirgt sich deswegen die unausgesprochene Forderung, bitte doch gleich das Denken mitzuverändern ohne dies lange begründen zu müssen.

Was von der Identitätspolitik angesichts dessen bleibt, ist eine Politik der Moral, die an Strukturen, geschweige denn ökonomischen Faktoren (die so lange im Fokus linken Denkens standen) nicht mehr interessiert ist, um stattdessen das Handeln von Individuen in den Blick zu nehmen und es nach einem nicht mehr begründungspflichtigen Kodex in Gut und Böse einzuteilen – ein linker Manichäismus. Dass manche Kritiker die linke Identitätspolitik aus diesem Grund mit einer Religion oder Sekte vergleichen, mag überspitzt erscheinen, entbehrt aber keineswegs der Grundlage. An einen Kanon von begründungsfreien Verhaltens- und Denkregeln kann man glauben oder nicht, rational diskutieren kann man ihn nicht und genau aus diesem Grund entpuppt er sich bei näherem Hinsehen auch als weitgehend unpolitisch.

Die Moral der identitätspolitischen Bewegung lässt sich aufgrund ihrer Theorielosigkeit und ihrem Desinteresse an strukturellen Faktoren in einem simplen Diktum zusammenfassen: Im Zweifelsfall für den Underdog. Dieses Parteiergreifen für die angeblich schwächere und diskriminierte Partei ist der Bewegung in ihren öffentlichen Verlautbarungen zum Reflex geworden und zieht sich durch sämtliche Themen, von Transgender bis hin zum Gaza-Konflikt.

In letzterem kommen die verschiedenen Stränge identitätspolitischen Denkens zusammen: Ein Denken und Handeln, das aufgrund seiner Sprachfixiertheit nur noch im moralinsauren Parteiergreifen für die vermeintlich Schwachen besteht und der daraus resultierende Autoritarismus einer Bewegung, die ihr Handeln schon lange nicht mehr argumentativ begründen kann – noch dies überhaupt für notwendig erachtet. So erblickte die identitätspolitische Bewegung im 7. Oktober 2023 denn vor allem die Bestätigung eines ihrer wichtigsten Paradigmen und damit zugleich ihrer eigenen Wichtigkeit: Der Kolonialismus dauert an, mit ihm Ausbeutung, Diskriminierung und Unterdrückung, und wir sind da, um diesen Zuständen durch lautstarkes Demonstrieren ein Ende zu bereiten.

Komplexes Denken nur noch an den Rändern

Dass sich weder die Geschichte des Staates Israel noch der Gaza-Konflikt vor der Abziehfolie der Postkolonialität lesen lassen, ist dabei weitgehend sekundär. Die Region war 400 Jahre vom Osmanischen Reich besetzt, anschließend ein Mandatsgebiet des Völkerbundes und es gab geschichtlich betrachtet diverse Gelegenheit zur Gründung eines palästinischen Staates, die sämtlich von den jeweiligen Vertretern der Palästinenser abgelehnt wurden. Aber komplexes Denken unter Einbezug geschichtlicher Fakten und begleitet von einer kritischen Haltung, auch den eigenen theoretischen Grundlagen gegenüber, findet in einem so engen gedanklichen Raum wie dem der identitätspolitischen Linken, wenn überhaupt, nur noch an den Rändern statt.

Ausgekostet wird stattdessen der autoritäre Reflex, schon immer recht gehabt zu haben und moralisch auf der richtigen Seite zu stehen, gegen das angebliche Unrecht, mit dem man nichts anderes zu tun haben möchte, als es mit großer Geste zu verurteilen. Auf diese Weise allen tiefer reichenden Verständnisses für die eigenen Themen wie Ausbeutung, Diskriminierung und sozialem Ausschluss beraubt, muss es aber doch einer gewesen sein. Und so regrediert die Bewegung auf das wohl älteste Muster der Diskriminierung überhaupt. Denn wer ist im Zweifelsfall schon immer schuld gewesen, ob nun an Brunnenvergiftungen, Gotteslästerung, dem Kapitalismus und nun obendrein auch den angeblichen Resten des Kolonialismus? Na, klar: Die Juden!

Lars Distelhorst

Lars Distelhorst

Lars Distelhorst ist Professor für Sozialpädagogik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule des Mittelstands. Er studierte Politikwissenschaften an der Universität Bremen und promovierte 2007
am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Seine berufliche Laufbahn begann er an den Elisabeth-Schulen in Berlin, bevor er in die akademische Lehre wechselte.