LP Ausgabe 2-2024 Editorial der Chefredakteurin Britta Lübke.

Liberale Werte in Gefahr?

Was Politik und Gesellschaft von Unternehmen lernen können

LP 2/2024 | Lukas Prandzioch

Betrachtet man den aktuellen Stand des Liberalismus in der Welt, fällt die Bilanz sehr negativ aus. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, Trumps Äußerungen zur NATO und der globale Anstieg von Populisten jeglicher Couleur scheinen den Westen samt seiner Werteordnung zu bedrohen.

Wo lange der Glaube herrschte, dass in Europa nie wieder ein Krieg ausbrechen könne, erlitt der liberale Traum einer freien Welt für alle einen klaren Rückschlag. Um den Niedergang liberaler Werte zu beobachten, muss man den Blick allerdings nicht in Richtung Transatlantik, Russland oder anderer BRICS-Staaten richten – auch in Deutschland scheinen liberale Werte gesellschaftlich immer mehr an Relevanz zu verlieren. An dieser Stelle könnte man eine Vielzahl von Entwicklungen aufzeigen, die verdeutlichen, wie genau sich dieser Wertewandel gestaltet und warum er stattfindet. Da diese Analyse jedoch den Umfang des Artikels deutlich überschreiten würde und vermutlich Gegenstand eines eigenen Buches sein könnte, möchte ich den Rückgang liberaler Werte an zwei Beispielen verdeutlichen.

Erstens: Die freie Meinungsäußerung – Bürgerinnen und Bürger haben zunehmend das Gefühl, ihre Meinung nicht frei äußern zu können. In der Umfrage „Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“ gaben 1990 noch 78 Prozent der befragten Personen an, dass sie das Gefühl haben, frei reden zu können. 2023 waren nur noch 40 Prozent der Befragten der Meinung, dass sie frei reden können. Unabhängig davon, ob es sich um eine gefühlte Wahrnehmung oder eine real existierende Einengung des Debattenraums handelt, sollten diese Zahlen jedem liberal denkenden Menschen Anlass zur Sorge bieten.

Zweitens: Mehr Staat durch mehr Gesetze – Auch hinsichtlich der Anzahl an Gesetzen scheint der Staat immer mehr Raum im Leben der Bürgerinnen und Bürger einzunehmen. Im Jahr 2011 gab es in Deutschland 1.623 Gesetze und 42.948 Einzelnormen. Im Jahr 2024 gibt es 1.792 Gesetze und 52.155 Einzelnormen. In 13 Jahren haben wir also einen Zuwachs von 169 Gesetzen und 9.207 Einzelnormen. In diesem Kontext stellt sich die Frage, auf welche Weise die Förderung von Eigenverantwortung bei Bürgerinnen und Bürgern erfolgen kann, wenn gleichzeitig eine Zunahme an Regulierung von Handlungsoptionen zu beobachten ist.

Die dargelegten Ausführungen sollen allerdings nicht dazu verleiten, eine pessimistische Haltung einzunehmen. Wie der Titel des Artikels bereits andeutet, bin ich überzeugt, dass Politik und Gesellschaft von den aktuellen Veränderungen in Unternehmen lernen können.

Liberale Werte in Gefahr?

Unternehmen als Trainingsfeld eines liberalen Habitus

 

Ein Beispiel für die Liberalisierung von Unternehmensprozessen ist der Bereich des betrieblichen Lernens. Während vor einigen Jahren noch recht generische Weiterbildungsprogramme gestaltet wurden, lässt sich aktuell eine Tendenz hin zum selbstgesteuerten Lernen beobachten. Wie der Name bereits impliziert, stehen hier die Lernziele und -bedürfnisse der Mitarbeitenden im Mittelpunkt. In diesem Kontext kann zudem ein Transfer zu Hayeks Postulat hinsichtlich der Akkumulation von Wissen gewagt werden. Auch wenn ein Personalentwickler über umfangreiche Erfahrung verfügt, ist er nicht in der Lage, die stetigen Veränderungen des Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung der Vielfältigkeit der Berufe im Unternehmen vorherzusehen oder gar zu planen. Folglich vollzieht sich derzeit ein Paradigmenwechsel, der den Schwerpunkt stärker auf die Förderung der Eigenverantwortung der Mitarbeitenden legt, anstatt Lösungen für individuelle Problemlagen vorzugeben.

Auch im Hinblick auf die Gestaltung von Projektstrukturen lässt sich eine zunehmende Ausrichtung an liberalen Werten beobachten. Die Relevanz agiler Arbeitsmethoden, welche auf Flexibilität und Eigenverantwortung basieren, hat zugenommen. In agilen Teams erfolgt die Arbeitsgestaltung in Form von Sprints, wobei die Mitarbeiter ihre Fortschritte regelmäßig reflektieren und ihre Arbeitsweise anpassen. Diese Struktur fördert nicht nur Eigenverantwortung und Individualismus, sondern auch Demokratiefähigkeit durch flachere Hierarchien und Aushandlungsprozesse.

Was Politik und Gesellschaft vom Anstieg liberaler Werte in Unternehmen lernen können

 

Versucht man zu verstehen, warum viele Unternehmen in ihren Prozessen immer liberaler werden, muss man sich zunächst mit der Systemlogik von Unternehmen befassen. Eines der primären Ziele ist die Gewinnmaximierung. Dabei steht unter anderem die Leistung der einzelnen Mitarbeiter im Fokus. Hier zeigt sich die Stärke des liberalen Wertesystems. Eine Organisation (sei es ein Staat, ein Unternehmen oder eine Familie), in der jede Person Verantwortung für ihr Handeln übernimmt, wird langfristig erfolgreich sein. Dabei ist den Unternehmen bewusst, dass die Veränderung von einem fremdbestimmten Denken hin zu einem eigenverantwortlichen Denken keinesfalls ein Automatismus ist. Vielmehr handelt es sich um einen langwierigen Transformationsprozess, der auch Begleitung und Unterstützung erfordert.

Hier sollten wir als Liberale besonders aufmerksam sein. Einer der größten Fehler, den ich in liberalen Kreisen beobachte, ist die Annahme, dass gute Argumente ausreichen, um Menschen von liberalen Werten zu überzeugen. Es ist eine Sache, jemanden argumentativ davon zu überzeugen, dass das Rentensystem angesichts des demografischen Wandels reformbedürftig ist. Es ist jedoch eine andere Herausforderung, derselben Person klarzumachen, warum es sinnvoll ist, die Altersvorsorge selbst in die Hand zu nehmen. Wir müssen also lernen, Menschen für liberale Werte zu begeistern.

Wie wir Menschen für liberale Werte begeistern können

 

Über Liberalismus sprechen: Es ist nachvollziehbar, dass zahlreiche Personen politische Debatten am Arbeitsplatz vermeiden. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, die Veränderungen in der Unternehmenslandschaft zu nutzen, um für liberale Werte zu werben. Wenn wir kommunizieren, dass jede Meinung willkommen ist und unsere Kollegen sich nicht dazu gezwungen fühlen, ihre Ansichten zu filtern, kann dies zur Veranschaulichung genutzt werden, wie liberale Werte zu einem positiven Arbeitsumfeld beitragen.

Liberalismus leben: Gleichzeitig werden wir niemanden dazu bewegen, sein Weltbild zu hinterfragen, wenn wir das, was wir predigen, nicht auch selbst leben. Es ist an uns, aufzustehen, wenn Personen aufgrund ihrer Meinung ausgegrenzt werden. Auch in Projekten wird sichtbar, ob unsere Worte ernst zu nehmen sind oder lediglich Plattitüden darstellen. Sind wir die Personen, die in Projekten Verantwortung übernehmen? Wenn im Projekt etwas schiefläuft, schieben wir die Schuld auf andere oder hinterfragen wir uns selbst und entwickeln uns weiter? Im Endeffekt werden wir berechtigterweise an unseren Taten gemessen. Demnach sollten wir hier als gute Vorbilder vorangehen.

Menschen ermutigen: Konsequent nach liberalen Werten zu leben ist anstrengend. Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, erst recht. Wenn ich also in meinem Berufsalltag lange auf die Anweisungen meiner Führungskräfte gehört habe und plötzlich selbst entscheiden soll, welche Weiterbildungen ich besuche und wie ich meine Arbeitsprozesse strukturiere, kann das sehr herausfordernd sein. Daher ist es unerlässlich, Menschen zu ermutigen. Ob es der Kollege ist, der sich unsicher ist, ob er studieren soll; die Kollegin, die sich nicht sicher ist, ob sie nach ihrer Elternzeit erneut eine Führungsposition anstreben soll, oder der Auszubildende, der darüber nachdenkt, seine Ausbildung abzubrechen, weil ihm alles zu anstrengend wird – hier können wir einen positiven Einfluss auf das Leben anderer Menschen haben und gleichzeitig liberale Werte fördern.

Lukas Prandzioch

Lukas Prandzioch

Lukas Prandzioch beschäftigt sich seit zehn Jahren mit dem Thema Bildung. Als Bildungsaufsteiger ist es ihm ein besonderes Anlie¬gen, Menschen zu ermutigen, ihren Lebensweg selbst in die Hand zu nehmen. Derzeit studiert Lukas Prandzioch Erziehungswissenschaften im Master und arbeitet nebenbei als Berater für Lern- und Bildungsfragen. Er freut sich auf einen anregenden Austausch auf LinkedIn.