Libanon wieder einmal am Scheideweg
LP 1/2025 | Noam Petri
Eine libanesische Bekannte sagte mir während des Krieges mit Israel letztes Jahr: „Unser einziger
Wunsch ist, dass Libanon uns nicht fortgenommen wird und unser Land bleibt.“ Aber wessen Land ist
es denn und wem gehört es? Den Bürgern gehört dieses Land schon lange nicht mehr. Libanon hat nach fast vier Jahren politischen Stillstands nun tatsächlich einen neuen Präsidenten und Premierminister – zweifellos gute Neuigkeiten. Gut ist auch, dass sich am Ende nicht die von der Hisbollah favorisierten Kandidaten durchsetzen konnten. Beschwingt durch den überraschenden Fall des Assad-Regimes in Syrien regt sich unter vielen Libanesen im In- und Ausland nun Hoffnung darauf, dass es auch endlich im Libanon zu grundlegenden Veränderungen kommen könnte. Der Zeitpunkt wäre opportun – und dies ist zu einem erheblichen Teil Israel zu verdanken: Die Schiiten-Miliz ist militärisch und politisch geschwächt; gleichzeitig benötigen die von ihnen kontrollierten Gebiete so dringend Gelder für den
Wiederaufbau, dass sie ihre Blockade der Wahl eines Präsidentschaftskandidaten schließlich aufgab. Wieder einmal steht Libanon am Scheideweg. Doch sind tatsächlich tiefgreifende politische und wirtschaftliche
Reformen oder gar die Entwaffnung der Hisbollah durch Präsidenten und Regierung zu erwarten? Hat die
schiitische Partei bewusst für einen Kandidaten gestimmt, der vorhat, sie ihrer Macht zu berauben?
Kleptokratie und Staatsbankrott
Bei näherem Hinsehen gibt es nicht vieles, das zuversichtlich stimmt. Denn zunächst ist – trotz zwei neuer Köpfe in den höchsten Staatsämtern – die Machtelite in Politik und Wirtschaft noch immer dieselbe. Die, die das Land seit Jahrzehnten kleptokratisch ausgenommen und sehenden Auges in den Staatsbankrott geführt hat. Ermöglicht wird dies auch durch das im Jahr 1989 vereinbarte Proporzsystem. Dieses verlangt, dass die wichtigsten Staatsämter nach Konfession vergeben werden.

Ursprünglich gedacht, um nach dem fünfzehn Jahre wütenden Bürgerkrieg repräsentative Teilhabe zu sichern und gesellschaftliche Stabilität wiederherzustellen, begünstigt der Proporz mittlerweile Korruption und Vetternwirtschaft, blockiert politischen Fortschritt und verhindert Reformen mangels Konkurrenz. Beiruts Kleptokraten haben die Wirtschaft des Landes schon lange unter sich aufgeteilt und fahren – trotz alter Feindschaften und Wirtschaftskrise – noch immer gut mit ihrer Strategie. Denn selbst angesichts einer gewissen „donor fatigue“ konnte bislang davon ausgegangen werden, dass immer wieder ausländische Hilfsgelder fließen – meist mit dem Ziel, staatliche Strukturen zu stärken, um ein Gegengewicht zur Hisbollah aufzubauen. Und so waren ihre politischen Gegner und die schiitische Partei auf absurde Weise voneinander abhängig: Solange beide existierten, hatten ausländische Regierungen Interesse daran, das Land mit Geld zu versorgen. Und dies gab keiner der Parteien Anlass dazu, etwas am Status Quo zu ändern.
Die Hisbollah entscheidet über Libanons Schicksal
Dass ihr schwacher Staat ihnen keine Sicherheit garantieren kann, wurde den Libanesen einmal mehr während des letzten Krieges zwischen Israel und der Hisbollah vor Augen geführt. Provoziert einzig und allein durch die Schiiten- Miliz, verdeutlichten die israelischen Luftangriffe und die daraus resultierende großflächige Zerstörung, dass es die Hisbollah ist, die über Libanons Schicksal entscheidet. Da Staat und Militär weder fähig noch willens waren, Druck auf die Miliz auszuüben, gab es außerdem keinen legitimen Verhandlungspartner für Israel. Darüber hinaus riss dieser Krieg alte konfessionelle Gräben wieder auf
und verstärkte die Polarisierung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen. So kam es besonders in christlichen Gegenden zu Misstrauen gegenüber den Schiiten des Landes, denen auf ihrer Flucht aus Angst vor israelischen Luftangriffen oftmals kein Obdach gewährt wurde. Alledem zum Trotz können die Libanesen auf eine bewundernswerte Protestkultur sowie auf eine kreative und mutige Zivilgesellschaft blicken. Neben kleineren Protesten wie der „You Stink“ Bewegung im Jahr 2015 angesichts einer Müllkrise waren es vor allem die breitflächigen Demonstrationen gegen Korruption und staatliche Ineffizienz im Jahr 2019, bekannt als „17 October Protests“, oder die wichtige Rolle, die zivile Organisationen nach der desaströsen Beiruter Hafenexplosion einnahmen, die Anlass zur Hoffnung gaben. Im Rahmen dieser Bewegungen formierten sich zunehmend überkonfessionelle Bündnisse, die einen grundlegenden Wandel forderten.
Wahrscheinlich kaum mehr als symbolische Handlungen
Die Hoffnung auf einen stabilen Frieden mit Israel dürfte allerdings am mangelnden Willen der Exekutive scheitern, die Konfrontation mit der Hisbollah zu suchen. Zwar hat Präsident Aoun seit Amtsantritt bereits mehrfach angekündigt, die Miliz zu entwaffnen; vor seiner Wahl war er aber Oberfbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte (LAF) – des Militärs also, unter dessen Aufsicht nicht nur die UN-Resolution 1701 zur Entwaffnung der Hisbollah nach Ende des israelisch-libanesischen Krieges 2006 mitnichten umgesetzt wurde. Im Gegenteil: Unter den Augen der LAF und der UNIFL-Truppen wuchs die Miliz zur schlagkräftigsten arabischen Armee im Nahen Osten heran. Wenig spricht dafür, dass dasselbe Problem mit den selben Akteuren diesmal aus der Welt geschafft werden kann. Wahrscheinlicher ist, dass die neue libanesische Regierung es bei einigen symbolischen Handlungen belässt, die jedoch ausländische Geldgeber, deren Aufmerksamkeit sich bereits auf andere Länder verlagert hat, zufriedenstellen wird. Mit den nötigen Finanzspritzen wird der totale Staatskollaps verhindert, die Bedingungen des Waffenstillstandsabkommens werden – wie nach 2006 – in Vergessenheit geraten und die Hisbollah wird sich unterdessen neu aufstellen.
Hinzu kommt, dass die neue Regierung sich schlicht keine Konfrontation mit der Hisbollah leisten kann – so
geschwächt sie auch sein mag. Diese ist nämlich bereits seit langem nicht mehr nur nicht-staatlicher Akteur,
sondern auch als gewählte Partei Teil des Parlaments, der Verwaltung und der Behörden. Als solche hat sie schon oft bewiesen, dass sie für politischen Stillstand sorgen kann, wenn ihr dieser dienlich ist. Außerdem hat die Hisbollah schon lange nicht mehr nur innerhalb der schiitischen Bevölkerung starken Rückhalt. Angesichts der Schwäche der eigenen Regierung und der LAF hat sich, wie bereits zuvor in Folge israelisch-libanesischer Kriege, das Narrativ verbreitet, die Hisbollah sei trotz vieler Fehler die einzige Gruppierung, die den „aggressiven Angriffen“ ihres „genozidalen Nachbarn“ etwas entgegensetze und das libanesische Volk verteidige. Es gibt dementsprechend wenig Rückhalt innerhalb der Bevölkerung für eine Entwaffnung. Selbst die Gegner der Hisbollah kritisieren zwar vehement Gewalt und Einschüchterungsversuche der Gruppe gegen Bürger und Politiker. Ihre Kritik richtet sich jedoch nie gegen den Status der Hisbollah als „Kraft des nationalen Widerstands“ oder gegen ihr eigentliches Ziel: die Zerstörung des Staates Israel.

Antiisraelische, anti-zionistische und antisemitische Rhetorik ist weit verbreitet und schafft seit Jahren ein Klima, das die Hisbollah legitimiert und normalisiert. Tragischerweise eint die Beiruter Elite mit einem Großteil der Zivilgesellschaft am Ende doch eines: Der Hass auf Israel ist stärker als der Hass auf die Hisbollah und Iran – die Akteure, die seit langem die einzige Demokratie im Nahen Osten ohne jegliche Rücksicht auf die Bevölkerung zu vernichten suchen.
Die Hisbollah hat keine Lösung für den Libanon
Doch selbst wer Israels Existenzrecht negiert und Antisemitismus gutheißt, müsste erkennen, dass die Hisbollah keine Lösung für Libanons Probleme bereithält. Auf einen Sinneswandel der Gruppe zu hoffen, würde ihr wahres Antlitz verkennen. Frieden und Stabilität im Libanon können nicht mit dem derzeitigen Regime in Iran und der Hisbollah und nicht ohne den Staat Israel erreicht werden.

Noam Petri
Sophie Schmid hat einen B.A. in Islamwissenschaft
von der Universität Zürich und einen M.A. in Arabistik von der Freien Universität Berlin. Nach Abschluss des Studiums arbeitete sie für die Friedrich-Naumann-Stiftung u.a. in Beirut und Amman. Seit 2022 forscht sie als Doktorandin der Friedrich Schlegel Graduiertenschule in Berlin zu Magischem Realismus in der zeitgenössischen arabischen Literatur.


https://pixabay.com/de/