Wissenschaftsfreiheit unter Druck Die Festrede zum 70. Geburtstag des VLA
LP 1/2025 |Ulrike Ackermann
Nach dem 2. Weltkrieg, der Überwindung der totalitären Regime im 20. Jahrhundert, dem Sieg der Demokratie im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich und Jahrzehnten des wachsenden Wohlstands, der Stabilität und des Friedens, gerät seit einigen Jahren die über Jahrhunderte hart erkämpfte Freiheit unter immer stärkeren Druck. Autoritäre und totalitäre Regimes haben Aufwind. Die Nachkriegsordnung ist in Erosion und transatlantische Vermächtnisse lösen sich auf. Amerika […] wendet sich von Europa ab. Und Europa ist im wahrsten Sinne des Wortes dafür nicht gerüstet, stattdessen gespalten wie selten zuvor. Und obendrein nehmen Angriffe auf unsere Freiheit und Demokratie von außen zu, am heftigsten mit dem fortdauernden Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine und den Westen.
Uns steht eine aggressive antiwestliche Achse, vor allem bestehend aus Russland, China, Iran und Nordkorea gegenüber, die besonders ein Narrativ teilen: der Kampf gegen den „dekadenten westlichen Liberalismus“ und die freiheitlichen Demokratien, gegen Individualismus und den westlichen freiheitlichen Lebensstil. Neu ist die dreiste Zurschaustellung dieser Kollaboration – und dies in einer Zeit, in der die westlichen Gesellschaften geschüttelt sind von multiplen Krisen, die das Vertrauen in unsere demokratisch-liberale Ordnungen unterminieren. Die politischen Ränder wachsen, die Mitte und die alten Volksparteien schrumpfen.
[…]. Der Westen und seine freiheitlichen Werte werden seit geraumer Zeit nicht nur von außen attackiert, sondern auch von innen, aus unseren Gesellschaften heraus radikal infrage gestellt und angegriffen. Die Identitätspolitik von rechts und die extremistisch militanten Umtriebe der „Identitären Bewegung“ oder der „Reichsbürger“ in ganz Europa werden schon länger als Bedrohung unserer Freiheit wahrgenommen. Die Erfolge der AfD, FPÖ oder des Rassemblement National sprechen Bände.
Diese rechtspopulistischen Kräfte favorisieren eine Identitätspolitik und einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht. Sie fordern lautstark die „Remigration“ von Migranten, Asylbewerbern oder Eingewanderten.
Die zweite große Gefahr geht vom identitären politischen Islam aus, der immer mehr Einfluss in unseren Gesellschaften gewinnt und bis heute verharmlost wird – auch wenn die Forderungen nach einem Kalifat inzwischen frank und frei auf unseren Straßen erhoben werden.
Seit einigen Jahren hat sich, drittens, auch eine Identitätspolitik von links an den Hochschulen fest etabliert und in der Folge maßgeblichen Einfluss im gesellschaftlichen Mainstream gefunden. Sie stellt mit ihrem Kollektivismus ebenso wie die Identitätspolitik der Rechten und der identitäre Islam die universalistischen Prinzipien der Aufklärung in Frage und ist im Kern antiliberal. Rechtsstaat, Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit seien Schimären und Ausdruck einer kolonialistischen, kapitalistischen, weißen, männlichen Herrschaft, die nur Unrecht fortschreibe. Diese linke Politik setzt die Dekolonialisierung auf ihre Agenda: der Kanon, Curricula und Studieninhalte, der Lehrkörper sollen dekolonialisiert werden.
Was die Varianten der Identitätspolitik eint, ist ihre radikale Kritik an der westlichen Moderne, an der Aufklärung, der Vernunft, der Universalität der Menschenrechte, an der repräsentativen Demokratie und dem Individualismus. Angetrieben von einem anti-westlichen Ressentiment nähren sie die westlichen Selbstzweifel und schlagen um in einen regelrechten Selbsthass – was den Feinden des Westens von außen sehr zupasskommt.
Diese Angriffe von rechts, links und islamistischer Seite auf unsere freiheitliche Ordnung, unsere Lebensweise und liberalen Werte überschneiden sich. Es zeigt sich seit dem 7. Oktober 2023 besonders im lautstarken Antisemitismus auf den propalästinensischen Demonstrationen, die die Hamas als Befreiungsbewegung der Palästinenser feiern. Antisemitische Stereotype von der „kosmopolitischen, jüdischen Mediengewalt“ oder dem „weltweit verzweigten jüdischen Finanzkapital“ kann man in der Hamas-Charta ebenso lesen wie auf propalästinensischen, antiisraelischen Demonstrationen im Westen hören. Rechter, linker, islamisch-muslimischer Antisemitismus mischen sich dabei. Der Antisemitismus ist das ideologische Bindemittel, eine Art Scharnier für den Hass auf den Westen, die Demokratie und den Liberalismus.

Israel wird als Paradebeispiel für den westlichen Kolonialismus, als Brückenkopf des amerikanischen Imperialismus, angesehen und die Palästinenser als stellvertretende Freiheitskämpfer für den ausgebeuteten globalen Süden in seinem antikolonialistischen Kampf gegen den Westen gefeiert. Die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ wurde in den USA, Europa ebenso wie in islamischen Ländern auf den Straßen und vor allem an den Universitäten gerufen. Gemeint ist damit ein Palästina‚ das frei von Juden ist und letztlich die Auslöschung des Staates Israel bedeutet. […]
Dieser antisemitische Furor auf unseren Straßen in Europa und in den USA ist deshalb auch eine antiwestliche Revolte. […] Seite an Seite [demonstrieren] Vertreter linksradikaler Gruppen gegen den US-Imperialismus, Klimaaktivisten, Muslime und Islamisten, Verfechter der postkolonialen Theorien, Vertreter der Queer Community oder Postfeministinnen. Paradoxerweise würden gerade letztere Personen in arabischen Autokratien und islamistischen Diktaturen wie der Hamas-Herrschaft im Gaza verfolgt, ins Gefängnis gesteckt oder gesteinigt werden. Doch dieser weltweite propalästinensische Aktivismus stößt im Wissenschafts- und Kunst- und Kulturbetrieb auf große Solidarität.
Es gab schon immer Interessenskonflikte um materielle Ansprüche […] und Streit über Gerechtigkeit in Gesellschaft und Politik. Damit kommt eine freiheitliche Demokratie ebenso zu Rande wie mit Wertekonflikten – auch wenn solche Debatten polarisieren können. Doch die neu entfachten Konflikte um Identitäten und Identitätspolitik sind anders. Wenn es im Streit immer weniger um inhaltliche Argumente, sondern vornehmlich um die Identität und Herkunft des Sprechers bzw. der Sprecherin und die politisch korrekte Sprache geht, sind diese Konflikte kaum noch diskursiv zu lösen – was für eine Demokratie und den Gemeinsinn natürlich fatal ist.
Was passiert hier eigentlich? Was sind die Triebfedern, wenn plötzlich Bilder in öffentlichen Museen entfernt oder Trigger-Warnungen in Museen angebracht werden, weil sich eine gesellschaftliche Gruppe beleidigt oder traumatisiert fühlen könnte? Bücher umgeschrieben werden, Hochschulfassaden von missliebigen Gedichten gesäubert werden? […] Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, dass es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Reinigung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet, besonders jedoch im akademischen und Kulturbetrieb.
Wilhelm von Humboldt warnte Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner berühmten Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin: „Der Freiheit droht aber nicht bloß Gefahr von ihm [dem Staat, UA], sondern auch von den Anstalten selbst, die, wie sie beginnen, einen gewissen Geist annehmen und gern das Aufkommen eines anderen ersticken.“
Dieser neue Geist wird heute nicht nur über Leitbilder der Universitäten gestiftet. Auch die Sprachpolitik, die im Rahmen von Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion gefördert und gefordert wird, prägt ihn. […] Sukzessive untergraben Moralisierung und Politisierung die Wissenschaftsfreiheit. Vor allem die moralisch-politisch aufgeladene „Woke Culture“ prägt immer stärker den Umgang miteinander auf dem Campus. Auch im institutionellen Gefüge des Universitätsbetriebs steigt der Konformitätsdruck. Wenn immer mehr politisch-moralische Kriterien in die Wissenschaft und ihren Betrieb eindringen und festlegen, wer was wie sagen, denken und forschen darf, ist es um die Freiheit schlecht bestellt. […]
Über Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, über Cancel Culture und die Einengung des Diskurses wird inzwischen auf breiterer Ebene gesellschaftlich gestritten. […] Wer sprechen darf, was ausgesprochen werden darf und was nicht, und wie tunlichst gesprochen werden soll, unterliegt häufig ganz neuen sozialen Regeln, die niemals offiziell ausgerufen oder demokratisch legitimiert wurden.
Es geht aber nicht nur um spektakuläre Fälle von Ausladungen aufgrund von sozialem Druck, sondern um eine fortschreitende Politisierung und Moralisierung vor allem der Kunst und Wissenschaften. Wie schon seit vielen Jahren in den USA halten auch bei uns wissenschafts- und kunstfremde moralisch-politische Prinzipien Einzug in den akademischen und Kulturbetrieb, die ausdrücklich auf die Transformation der Gesellschaft gerichtet sind: Diversity, Equity, Inclusion. […]
In Deutschland etwa sollten anfangs Gleichstellungstellen an den Universitäten, im Öffentlichen Dienst und in Unternehmen für Geschlechtergerechtigkeit zwischen Männern und Frauen sorgen, aber sie verfolgen mittlerweile eine viel weitreichendere politische Agenda. […] NGOs, die Gleichstellungsstellen bzw. das Diversity Management sind längst bedeutsame Transmissionsriemen für die Durchsetzung der Ideen der Critical Social Justice Theories geworden.
Diese Theorien reichen von den Gender Studies, den Postcolonial Studies, den Critical Race Studies bis zu den Queer Studies und haben sich inzwischen besonders in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften fest etabliert. Es ist eine krude Mischung aus Marxismus, Neo-Marxismus, Kritischer Theorie, Poststrukturalismus, besonders auch Antonio Gramscis Anleitungen zur Gewinnung der kulturellen Hegemonie. Reichlich bedient man sich bei Michel Foucault in banalisierter Form und kombiniert Fragmente mit Ideen postkolonialer Denker […]. […]
Es begann im Zuge der Neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren durchaus emanzipatorisch. Völlig zurecht schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuell bestehende Diskriminierungen aufmerksam und begehrten gegen Sexismus und Rassismus auf. Doch Zug um Zug breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus […].
Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von Ungerechtigkeit und gesellschaftlicher Benachteiligung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. […]
Es geht dabei um Wiedergutmachung und Kompensation erfahrenen Leids und um die Gewinnung sozialer und kultureller Wertschätzung. Verlangt werden die Gleichbehandlung und die Einführung von Quoten. Aus Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit wurde die Gleichstellung
Entstanden ist mit dieser Politik der positiven Diskriminierung über die Jahrzehnte eine Identitätspolitik, die ausdrücklich kollektive religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Zugehörigkeiten ins Zentrum stellt. Sie postuliert einen identitären, besonderen Wesenskern – Essentialismus genannt – für die eigene Gruppe. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive […].
Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communities entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. […]
In Deutschland und den europäischen Nachbarländern hatte der akademische Betrieb nichts Besseres zu tun, als dem amerikanischen Weg der Moralisierung und Politisierung der Wissenschaft zu folgen. Inzwischen ist die Identitätspolitik über die Hochschulen hinaus in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen präsent.
Was die Varianten der Identitätspolitik eint, ist ihre radikale Kritik an der westlichen Moderne und deren freiheitlichen Errungenschaften. Dem Universalismus der Aufklärung setzen sie den Partikularismus und die Relativierung der Kulturen beziehungsweise den Ethnopluralismus entgegen. Anstelle einer Wertschätzung des Individuums wird das Kollektiv gefeiert. Die westlich-liberale Zivilisationsgeschichte sehen sie nicht als Erfolg, sondern als Desaster an. Eine unentrinnbare Kollektivschuld für Kapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus und Patriachat wird der sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“ angelastet.
Diese Identitätspolitiken verbindet ein zutiefst anti-westliches Ressentiment und der Hass auf die Moderne und den Liberalismus. Und dies gerade in einer Zeit, in der weltweit Demokratie und Freiheit unter immer größeren Druck geraten. Solch westlicher Selbsthass ist nicht nur dekadent, sondern brandgefährlich und selbstzerstörerisch. Die Identitätspolitiken sind kollektivistisch und separatistisch zugleich, sie spalten, polarisieren und attackieren unsere liberale Gesellschaftsordnung.
Auch die linke Identitätspolitik an den Universitäten, in Gesellschaft und Politik fördert nicht etwa den Gemeinsinn, sondern vertieft die Risse innerhalb der Gesellschaft und treibt die Konkurrenz zwischen partikularen Gruppeninteressen voran. Es geht ihr nicht um die Verbesserung der gesellschaftlichen Lage und die Gleichberechtigung aller und jedes Individuums, sondern um eine neue Ständeordnung. Deren Hierarchie orientiert sich am Ausmaß des realen oder vermeintlichen Leids der jeweiligen Opfergruppe.
Mit den eingeforderten Sonderrechten und Quotierungen wird jedoch das Prinzip der Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht ausgehebelt. Auch die Prinzipien der individuellen Qualifikation und Leistung und des Wettbewerbs werden aufgegeben zugunsten der Quotierung nach Gruppenzugehörigkeit. Dies ist umso aberwitziger, als wir uns doch über Jahrhunderte schmerzvoll aus den Zwängen wechselnder Kollektive emanzipiert haben. Diese neue Ständeordnung, die sich an kollektiven Zugehörigkeiten und Identitäten orientiert, kommt zwar fortschrittlich daher, ist aber im Kern rückschrittlich. Sie widerspricht v.a. allem einem grundsätzlichen Prinzip unserer rechtsstaatlichen Ordnung: jeder und jede ist vor dem Gesetz gleich, gerade unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit und Religion.
Es rumort im Wissenschafts- und im Kulturbetrieb. Gegen die linke Identitätspolitik hat sich Protest erhoben, besonders, seitdem der latente Antisemitismus manifest geworden ist und seine hässliche Fratze zeigt. […] Kritik an der Politik Israels ist legitim und nötig, wenn sie allerdings die Existenzberechtigung des Staates in Frage stellt, kippt sie um in Antisemitismus. Zumindest hat eine breitere Debatte begonnen über die Freiheit der Wissenschaft, die Grenzen der Meinungsfreiheit, über Moralisierung, Politisierung und Aktivismus im akademischen und Kunstbetrieb.
Der Streit im Herbst 2024 um Wissenschafts- und Meinungsfreiheit ist ein Paradebeispiel. Besonders an den Berliner Hochschulen kam es seit dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023 zu antisemitischen Tumulten. International vernetzte propalästinensische Aktivisten verbreiteten auch dort Rote Hände als Symbol zur Erinnerung an den palästinensischen Lynchmord an zwei israelischen Soldaten im 12. Oktober 2000.
Tausende Kulturschaffende und Professoren verfassten Resolutionen gegen den sogenannten Genozid Israels an den Palästinenser. Nach unten gerichtete Rote Dreiecke werden von propalästinensischen Aktivisten auch hier benutzt, um auf Uni-Fluren und Demonstrationen Israel-Verteidiger zu markieren. Vorbild dafür ist die Hamas, die auf diese Weise Kriegsziele und jüdische Menschen markiert, die angegriffen werden sollen. Es ist ein Rekurs auf ein SS-Symbol: politische Gefangene in Konzentrationslagern mussten ein rotes Dreieck tragen, dessen Spitze nach unten zeigte. […]
Im Oktober 2024 hatten propalästinensische Aktivisten gewaltsam versucht, das Präsidium der Freien Universität zu besetzen. […] Die damalige Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger intervenierte recht spät, dafür umso vehementer in dieser Debatte. In einer Resolution verteidigten mehr als tausend Berliner Wissenschaftler eine propalästinensische Demonstration und kritisierten pauschal Gewalt. Es mache sie „fassungslos“, so Stark-Watzinger, wenn Wissenschaftler implizit das Recht zur Bedrohung jüdischer Studenten an der Freien Universität Berlin verteidigten. Denn wer eine Demonstration verteidige, bei der zu Gewalt (Intifada) aufgerufen wird, mache sich in gewissem Maß damit gemein. Sie bezweifelte, dass die Wissenschaftler noch auf dem Boden des Grundgesetzes stünden. Sofort schlug ihr harte Kritik aus der Scientific Community entgegen, insbesondere als das Ministerium erwog, aufgrund des Protestschreibens den Unterzeichnenden womöglich Fördermittel zu streichen und sie disziplinarrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Ein Sturm der Entrüstung brach los und Staatssekretärin Sabine Döring verlor als Bauernopfer ihren Job. […]

Letzte Woche [im Januar 2025] ist eine Resolution gegen Antisemitismus an Universitäten mit großer Mehrheit im Bundestag angenommen worden, die sich fraktionsübergreifend gegen Judenfeindlichkeit im Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb gewandt hat. Der Streit darüber geht weiter, die Hochschulrektorenkonferenz z.B. sieht darin einen Eingriff die die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. […]
Umso wichtiger ist es, genau hinzuschauen, welche Ideen warum und in welchen Gewand Konjunktur haben. […] Verbote, wie sie die AfD fordert, oder Donald Trump jetzt mit der Dampfwalze und großangelegten Säuberungsaktionen exerziert, werden das Problem nicht lösen und befeuern nur den verheerenden Kulturkrieg. Stattdessen ist es höchste Zeit für eine grundsätzliche Selbstreflexion […]. Wenn es in der Wissenschaft um Normen und Werte geht, verlangt es die Redlichkeit, diese auch explizit zu machen, um ergebnisoffenes und Evidenz basiertes Forschen und Lehren und den sachlichen Umgang mit Argumenten im Disput zu realisieren. […]
Wir müssen streiten, um dem alten und neuen identitären Kollektivismus der Rechten, der Linken, der Islamisten und anderer religiöser Eiferer entgegenzutreten. Das ist die Lehre aus den Totalitarismen des letzten Jahrhunderts und öffnet den Blick für die Gefahren der neuen. Eine antitotalitäre Selbstaufklärung steht jetzt auf der Agenda!
Wir brauchen in dieser Zeit der großen Krisen einen neuen antitotalitären Konsens, der aus der Geschichte lernt, sie nicht säubert oder glättet. Denn die europäische und nordamerikanische Geschichte hat eine fortschrittliche und gleichermaßen eine grausame Seite. Die Errungenschaften der Französischen Revolution waren begleitet von der Schreckensherrschaft der Jakobiner. Mit der Entdeckung und Eroberung neuer Kontinente gingen auch koloniale Verbrechen einher. Und die Freiheitsprinzipien der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verhinderten nicht die Sklaverei.
Trotz dieser Abgründe verdanken wir dieser westlichen Zivilisationsgeschichte Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie und vor allem die Menschenrechte. Sie haben universelle Gültigkeit […]. Geschichte schreitet nicht linear fort, erst recht nicht zum Paradies auf Erden. Mit Konflikten, Ambivalenzen und fortwährenden Krisen müssen wir leben […]. Was wir am wenigsten brauchen, sind neue Ideologien, die uns auffordern, unsere freiheitlichen Grundlagen und Werte zu verwerfen. Denn identitärer Kollektivismus, Opfer-Täter-Polarisierungen und moralisierende Schulddiskurse zerstören die Freiheit. Vor allem brauchen wir den Mut jedes Einzelnen, sozialem Konformitätsdruck zu widerstehen und das Wort zu ergreifen, auch wenn es manchmal unbequem erscheint. Die Freiheit ist zerbrechlich, wie wir wissen und beobachten können. Wir erhalten sie nur, wenn wir sie mutig verteidigen.

Prof. Dr. Ulrike Ackermann
Prof. Dr. Ulrike Ackermann, Sozialwissenschaftlerin, ist Professorin für Politikwissenschaft. Sie gründete 2008 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung in Heidelberg, dessen Direktorin sie bis heute ist. Als freie Publizistin schrieb sie bereits für Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, tageszeitung, Frankfurter Rundschau, MERKUR u.a. Sie hat zudem mehrere Bücher veröffentlicht, darunter 2022 das Werk „Die neue Schweigespirale: Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt“.



