LP Ausgabe 2-2024 Editorial der Chefredakteurin Britta Lübke.

Die Landtagswahlen im Osten

Ein liberaler Zwischenruf

LP 2/2024 | Denise Köcke

Wenn es auf der Wahlparty – oder „Wahlzurkenntnisnahme“ – der FDP Sachsen einen roten Faden gab, der sich durch die Gespräche zog, dann war es: „Was ist mit diesem Land los? Und was sollen wir als Liberale noch machen?“. Ich wohne zwar nicht mehr in Sachsen, hatte mich aber dazugesellt, um ein paar Eindrücke zu erhaschen.

Nachdem die Wähler entschieden haben, gibt es in Thüringen oder Sachsen keine denkbare Koalition ohne AfD oder BSW. Trotz allem haben die Liberalen in Sachsen und Thüringen wohl selbst keine Fehler gemacht, die das Wahlergebnis erklären. Vielmehr ist die politische Lage, in der wir stecken, keine Krise, die wir (nur) durch politischen Liberalismus lösen können. In dieser Krise sind wir als Liberale in unserer Funktion als Bürger – in unserem gesellschaftlichen Liberalismus – gefragt.

Wenn uns die letzten Jahre eines gezeigt haben, dann, dass die Antworten der etablierten Parteien gänzlich unzureichend sind. „Wir müssen die Probleme der Menschen ernst nehmen.“ Würde jedes Mal, wenn ein Politiker in jovialer Selbstgefälligkeit diesen Satz sagt, jemand aus AfD und BSW austreten, hätten wir die Probleme tatsächlich gelöst. Klappt bloß leider nicht. Dieses Phrasendreschen ist symbolhaft für das, was die Leute im Osten stört: Wir, die Einzigen, die wissen, wie Politik funktioniert und die für stabile Regierungen der Mitte sorgen können, müssen dem „Pöbel“ im Erzgebirge nur unsere plakativ bodenständige Seite zeigen und dann richtet sich das alles. „Wir müssen den Menschen im Osten zuhören.“ Die bockigen Kinder müssen nur lernen, uns zu sagen, was falsch ist mit ihnen, und dann füttern und wickeln wir sie, bis sie aufhören zu schreien.

Da zeigt sich ein zutiefst anti-liberales Menschenbild. Die Protestwähler im Osten sind doch keine Verfügungsmasse, die man irgendwie zur Demokratie erziehen müsste. Wenn sie den Wert der politischen Mitte sähen, würden sie auch so wählen. Angesichts der Mobilisierung von AfD und BSW aus dem Nichtwähler-Pool müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass wir die Zeiten politischer Stabilität dem Umstand verdanken, dass die – vormals – Nichtwähler still waren. Der Frust über „die Politik“ ist ja nichts Neues. Auch früher wurde schon skandiert, „die da oben“ seien doch alles Verbrecher und keine Partei wählbar.

Fußgängerampel, die auf Grün steht.

Toxisches Staatsverständnis

Jene Gruppe der Protestwähler, die schon früher geschimpft hat, besteht vorwiegend aus Leuten, die sich selbst als Wendeverlierer begreifen, die niemals richtig in der Marktwirtschaft angekommen sind. Unter ihnen herrscht ein gewisses Stockholm-Syndrom zur DDR. Früher (als alles viel besser war) hat sich der Staat gekümmert. Es gab nicht viel, aber irgendwie hat’s funktioniert. Wer keinen Job hatte, für den hat der Staat einen geschaffen. Nach der Wende konnten und können einige Leute schlichtweg nicht damit umgehen, ihr Leben selbst in die Hand nehmen zu müssen. Sie sind noch immer darauf angewiesen, dass der Staat sich kümmert. Gleichzeitig haben sie die Erfahrung gemacht, dass der Staat scheiße ist – sie belügt, bespitzelt, einsperrt. Sie brauchen die starke Hand, aber sie wissen, dass diese Hand zum Schlag ausholt. Jene Gemengelage zwischen Abhängigkeit und Missachtung speist das toxische Staatsverständnis einer signifikanten Gruppe im Osten.

Umso schlimmer, dass viele die Erwartung hatten, vom Systemwechsel zu profitieren. Nüchtern betrachtet haben sie das auch – jedem Sozialhilfeempfänger geht es wirtschaftlich besser als in der DDR. Doch dieses absolute Wohlstandsniveau ist irrelevant. Menschen sehen sich in Relation zu anderen. Mittlerweile stehen diejenigen, die nach der Wende ihr Schicksal in die Hand genommen haben, deutlich besser da, obwohl früher alle gleich wenig hatten. Dazu kommen noch neue Gruppen – wie Migranten – welche jetzt die gesellschaftliche Wertschätzung einfordern, die vermeintlich den Abgehängten zuerst zusteht. Doppelt überholt – von den eigenen Peers und von „den Anderen“.

Straßenzug im Zentrum von Dresden mit Blick auf Frauenkirche.

Unzufriedenheit als Erfordernis kognitiver Dissonanzen

Was macht man da, um das Gerechtigkeitsempfinden zu befriedigen? Harte Bürgergeldkürzungen, öffentlichkeitswirksame Abschiebungen… Das entspricht vielleicht den Forderungen der Betroffenen, doch Forderungen finden sich neue. Man will ja dagegen sein. Die kognitive Dissonanz erfordert, unzufrieden zu sein. Politisch machen kann man da nicht viel, aber wir können damit leben. Wir müssen mit einem gewissen Hintergrundrauschen – in Form von AfD, BSW, Montagsdemos – gesellschaftlich klarkommen. Es ist zu hoffen, dass die Repräsentation in Amt und Würden ausreicht, den sozialen Geltungsdruck zu stillen.

 

Wo wir etwas machen können, ist bei denen, die AfD und BSW aus Unsicherheit über gesellschaftlichen Wandel, geopolitische Krisen und die wirtschaftliche Lage gewählt haben. Es ist ja nicht so, als sei das Rechtsaußenwählen ein spezifisch deutsches Phänomen. Ostalgie mag DDR-zentriert sein, doch auch in anderen Ländern sehnen sich Teile der Bevölkerung nach den guten, alten Zeiten. Aus meiner Zeit in den USA, Frankreich und den Niederlanden kann ich sagen, dass sich der gesellschaftliche Frust vergleichbar anfühlt. Daher ist es auch zu kurz gedacht, die Strukturveränderungen bekämpfen zu wollen, indem wir „einfach die Probleme lösen“. Selbst wenn wir die Wende in der Migrations-, Sozial-, Rentenpolitik bekommen, ist doch nicht gesagt, dass der Osten wieder in die Arme der etablierten Parteien fällt. Jede Reform produziert neue Verlierer. Manchmal gibt es keine gute Lösung. Was wir jedoch machen können: ehrliche Debatten führen. Hier kommen wir als Liberale ins Spiel.

Beispielsweise haben wir es bisher nicht geschafft, in der Migrationsfrage eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu führen, wie wir uns Integration eigentlich vorstellen. Bis wir nicht ein Leitbild definiert haben, das man dann in Realpolitik gießen kann, wird das Thema immer wieder hochkochen. Dabei liegen die gesellschaftlichen Konfliktlinien offen. Auf der einen Seite ist uns daran gelegen, Menschen, die Krieg und Verfolgung ausgesetzt sind, Schutz zu bieten – im Lichte des Fachkräftemangels auch nicht ganz uneigennützig. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass der Durchschnitt der Menschen aus arabisch-afrikanischen Ländern uns kulturell fremder ist, als es unsere europäischen Nachbarn sind, und wir uns mit Migration aus diesen Regionen auch ein höheres Maß an Sexismus, Antisemitismus und Homophobie ins Land holen. Das baut Spannungsfelder zu Werten auf, die wir hart erkämpft haben.

Als Gesellschaft ist es völlig legitim, eine Position irgendwo auf dem gemäßigten Spektrum zwischen Totalabschottung und offenen Grenzen zu beziehen. Es ist legitim, zu beanspruchen, unsere Werte seien derart wichtig und unverhandelbar, dass wir uns keinen Schritt in eine andere Richtung bewegen, dass wir eine Leitkultur vorgeben und Zuwiderhandeln sanktionieren. Andererseits ist es ebenso legitim, zu sagen, dass wir aus dem Gebot der Menschlichkeit heraus Geflüchteten – ohne Obergrenze – eine neue Heimat bieten wollen. Dass wir es einfach aushalten müssen, wenn unsere Kultur herausgefordert, verändert, vermischt wird. Dass wir bereit sind, neue Konflikte einzugehen, um Schutzbedürftigen entgegenzukommen. Beides kann man vertretbar fordern; aber wir müssen die Diskussion führen.

Auf Augenhöhe werben

Als Liberale kann ich beiden Ansätze einen Aspekt von Freiheit attestieren: zum einen der Schutz von Freiheitsrechten und der Freiheit einer Nation, über ihre Grenzen zu bestimmen; zum anderen die Freiheit von Menschen, ihr Land zu verlassen und sich innerhalb einer Gesellschaft auszudrücken. Wir als Liberale können hier vermitteln, nuancieren und zeigen, dass die politischen Ränder keine Lösungen bieten. Tief im Innersten sind die Leute ja nicht ernsthaft glücklicher ohne Asyl oder in einer DDR 2.0.

Uns werden nie die Herzen der Menschen zufliegen. Liberalismus ist in Deutschland kein Massenphänomen. Aber solange der politische Liberalismus im Osten ein 1%-Phänomen ist, ist umso wichtiger, dass wir mit unserer gesellschaftlichen Freiheitsidee in den Diskurs gehen, auch da, wo es keine Lösungen ohne Verlierer gibt. Deshalb ist unsere Verantwortung, den Protestwählern im Osten nicht als bockige Kinder gegenüberzutreten, sondern auf Augenhöhe für das zu werben, was uns als Liberale verbindet: Den Wunsch nach einer offenen Gesellschaft von leistungsbereiten Individuen, die es jedem ermöglicht, voranzukommen und sich zu entfalten.

Denise Köcke

Denise Köcke

Denise Köcke ist gebürtige sachsen-Anhalterin, hat in Dresden studiert und lebt in Frankfurt (Oder). Als Völkerrechtlerin war sie kurzzeitig am Internationalen Strafgerichtshof und Kosovotribunal tätig. Derzeit macht sie ihr juristisches Staatsexamen und arbeitet in der Cybersicherheitsforschung. Früher war Denise Köcke in der FDP aktiv, unter anderem 2017 und 2021 als Bundestagskandidatin im Harz.