LP Ausgabe 2-2024 Editorial der Chefredakteurin Britta Lübke.

Frankreich im Umbruch

Die französischen Parlamentswahlen und ihre Bedeutung für Deutschland und Europa

LP 2/2024 | Marina Sedlo

Am 9. Juni 2024 verkündete der französische Präsident Emmanuel Macron die Auflösung der Nationalversammlung – kurz nachdem die Ergebnisse der Europawahl bekanntgegeben wurden, bei der die Liste der europaskeptischen Partei Rassemblement National (ehem. Front National) unter der Führung von Jordan Bardella mit 31,4 Prozent als klarer Sieger hervorging.

Die Liste von Macrons Partei Ensemble erzielte 14,6 Prozent der Stimmen. In Reaktion auf dieses Wahlergebnis entschied der Präsident, den Franzosen erneut die Möglichkeit zu geben, über ihre „parlamentarische Zukunft zu entscheiden“. Die ursprünglich für 2027 geplanten ordentlichen Parlamentswahlen wurden nunmehr am 30. Juni und 7. Juli abgehalten nach lediglich zwei Jahren der Legislaturperiode.

In Frankreich weckte diese Entscheidung bei vielen Bürgern die Sorge, dass die rechtsextreme Partei die Wahl gewinnen, eine Mehrheit im Parlament erringen und damit auch den Premierminister stellen könnte. Um dies zu verhindern, taten sich die Parteien der linken politischen Strömung – namentlich die kommunistische La France Insoumise, die grüne Europe Écologie Les Verts, die sozialdemokratische Parti Socialiste und weitere kleinere linke Parteien – zu einer gemeinsamen Liste zusammen, den Nouveau Front Populaire (NFP, dt. „Neue Volksfront“) und traten jeweils mit einem gemeinsamen Kandidaten in den Wahlkreisen an.

Der Name dieser Liste ist angelehnt an den Front Populaire (FP) von 1936, der gegründet worden war, um dem Aufstieg des Faschismus in Europa entgegenzuwirken. Der FP gewann die damaligen Wahlen und stellte daraufhin die Regierung. Auch die gegenwärtige Parteienallianz des NFP konnte in den Wahlen die meisten Stimmen auf sich vereinen. Die Macronisten des Ensemble belegten den zweiten Platz, während der rechtsextreme Rassemblement National trotz deutlicher Zugewinne hinter den Erwartungen blieb und den dritten Platz erreichte.

Arc de triumphe

Suche nach dem nächsten Premierminister

Doch erstmal stand im Sommer 2024 für die Welt Frankreich wegen der Olympischen Spielen in Paris im Mittelpunkt. Die Franzosen feierten ihre zahlreichen Siege, im ganzen Land herrschte eine feierliche Stimmung. Währenddessen fanden aber im Hintergrund politische Gespräche um das Amt des Premierministers statt: Wer sollte den Amtsinhaber Gabriel Attal ablösen und neuer Premierminister Frankreichs werden?

Der NFP erhob als Sieger der Parlamentswahlen den Anspruch, einen eigenen Kandidaten an die Spitze von Matignon, dem Regierungssitz des Premierministers, zu bringen. Anders als erwartet ernannte Emmanuel Macron dann am 5. September 2024 mit dem ehemaligen EU-Kommissar Michel Barnier einen moderat konservativen Politiker zum neuen Premierminister. Diese Entscheidung, die viele Beobachter aufgrund ihrer politischen Tragweite überraschte, war eine deutliche Absage an die Linke, welche daraufhin ein Misstrauensvotum gegenüber der französischen Regierung ankündigte. Die Partei des neuen Premierministers, Les Républicains (LR), zählt hingegen zu den Verlierern der Wahlen und eine parlamentarische Mehrheit ist nur mit Unterstützung des Rassemblement National möglich. Frankreich steht damit vor einer politisch äußerst komplizierten Situation.

Was können deutsche Beobachter aus dieser politischen Lage in Frankreich lernen? Drei zentrale Entwicklungen lassen sich anhand der Ereignissen erkennen, die auch für die deutsche Politik wichtig sein sollten.

Resilienz der französischen Gesellschaft und Offenheit für Wahlen

Erstens: Frankreichs Gesellschaft hat sich inmitten der politischen Turbulenzen als bemerkenswert resilient erwiesen. Trotz gesellschaftlichen Spannungen, den Protesten gegen Polizeigewalt oder Macrons Rentenreform sowie der Bedrohung durch terroristische Anschläge in der Vergangenheit haben die Franzosen zweierlei unter Beweis gestellt: Sie sind bereit, politische Debatten auszuhalten, und fähig, in Krisenzeiten Entscheidungen demokratisch zu treffen. Die französische Demokratie zeigt, dass auch in Zeiten großer Unsicherheit, Wahlen eine Chance zur Erneuerung bieten. Durch die argumentative Auseinandersetzung mit populistischen und extremen Kräften gedeiht eine demokratische Kultur, die Herausforderungen nicht scheut. Die Bereitschaft der Franzosen, auch in Krisenzeiten Debatten offen auszutragen und zu wählen, stärkt nachhaltig die demokratischen Institutionen. Dies unterstreicht den Eindruck, dass politische Partizipation und kontroverse Wahlen nicht zwangsläufig zu Instabilität führen. Sie bieten vielmehr ein Ventil für gesellschaftliche Spannungen.

In Deutschland neigt man oft dazu, Neuwahlen oder politische Grundsatzdebatten als Risiko für die Stabilität von Demokratien zu betrachten, insbesondere wenn extreme Parteien am rechten oder linken Rand involviert sind. Doch die politischen Ereignisse in Frankreich belegen, dass eine starke Demokratie auch mit Wahlen unter kontroversen Umständen umgehen kann, ohne hierbei ins Chaos zu stürzen. Der Mut, politische Auseinandersetzungen offen und demokratisch auszutragen, sollte auch in Deutschland von politischen Parteien und ihren Führungsriegen gelebt und gefördert werden.

Der Einfluss innenpolitischer Fragen auf Wahlergebnisse

Zweitens: Die französischen Wahlen wurden weniger durch geopolitische Werthaltungen oder übergeordnete wirtschaftliche Fragen bestimmt, sondern vor allem durch innen- und sicherheitspolitische Themen. Die öffentlichen Konfliktlinien zogen sich in erster Linie entlang der Migration, der Integration und der Frage, wie Frankreich mit den gesellschaftlichen Herausforderungen umgehen soll, die durch Zuwanderung entstehen. Auch wenn die Rechtspopulisten nicht so stark profitieren konnten wie von zahlreichen Beobachtern befürchtet, war klar, dass Migration das mit Abstand beherrschende Thema der Wahl war.

Der Fokus auf innenpolitische Fragen ist auch für Deutschland relevant. Frankreich verdeutlicht, dass Migration ein zentrales politisches Thema ist, welches breiter und differenzierter auch durch die Parteien der Mitte adressiert werden muss. Sowohl die liberalen als auch die konservativen Parteien in Frankreich haben die Dringlichkeit der Thematik erkannt und versucht, Forderungen im Zusammenhang mit Migration nicht den Randparteien zu überlassen, sondern ausgewogene Angebote aus der politischen Mitte an die Wähler zu richten. Für die bürgerliche Parteienlandschaft in Deutschland sollte dies als Vorbild im Wettbewerb gegen die politischen Ränder verstanden werden, Migration nicht mehr als bloßes Randthema zu verklären, sondern als eine zentrale gesellschaftspolitische Herausforderung zu verstehen, die pragmatische Lösungen erfordert.

Das deutsch-französische Verhältnis – eine Partnerschaft auf Augenhöhe

Drittens: Letztlich zeigt die aktuelle politische Lage Frankreichs, dass das deutsch-französische Verhältnis keineswegs mehr als selbstverständlich betrachtet werden darf. Zwar gibt es weiterhin enge wirtschaftliche und politische Verbindungen zwischen beiden Ländern, doch der wachsende Einfluss antieuropäischer Parteien in Frankreich ist ein deutliches Alarmsignal.

Deutschland hat in den letzten Jahren häufig die ausgestreckte Hand Macrons ausgeschlagen, der auf eine intensivere Zusammenarbeit in Europa, auch in sicherheitspolitischen Fragen abzielte. Nun muss es an der Zeit sein, auf die Offerte zu reagieren und zu handeln. Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ist nicht nur für beide Länder von entscheidender Bedeutung, sondern auch für die gesamte europäische Idee. Die Wahlen in Frankreich sind ein Weckruf, dass die deutsch-französische Partnerschaft gestärkt und erneuert werden muss – auf Augenhöhe und mit dem gegenseitigen Verständnis für die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen beider Länder.

Die französischen Parlamentswahlen sind weit mehr als nur ein nationales Ereignis. Sie haben Auswirkungen auf ganz Europa und bieten wichtige Lehren, die auch für die deutsche Politik relevant sind. Die politische Landschaft Frankreichs zeigt, dass – trotz gesellschaftlicher Spannungen und des Aufstiegs extremer Parteien – die Demokratie robust bleibt und in der Lage ist, Herausforderungen zu bewältigen. Deutschland sollte diese Entwicklungen aufmerksam verfolgen und die Gelegenheit nutzen, das deutsch-französische Verhältnis zu vertiefen – nicht nur im Interesse der beiden Länder, sondern auch für die Zukunft Europas.

Marina Sedlo

Marina Sedlo

Marina Sedlo ist Deutsch-Französin, Studentin der Politikwissenschaften und Ortsbeirätin für die FDP im Frankfurter Nordend. Ob in der Politik oder im deutschfranzösischen Wirtschaftsverein in Hessen, engagiert sie sich auf verschiedenen Ebenen für das deutschfranzösische Leben, Arbeiten und Politikmachen.