Make America… was nochmal?
Eine Deutsche im amerikanischen Wahlzirkus
LP 2/2024 | Annika Reuter
Mit 21 Jahren reiste ich das erste Mal in die USA und war tief beeindruckt. Doch mehr und mehr lernte ich auch die dunklen Seiten des Landes der Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten kennen: Rassismus, Waffen- und Polizeigewalt, undurchschaubare Wahlsysteme, religiöser Fanatismus.
Seit der Auswanderung meines Vaters zeigten mir regelmäßige Besuche in Michigan, dass in den „Vereinigten“ Staaten absolut nichts united, dafür alles überdimensional ist: Jeder der 50 Staaten hat eigene Gesetze; die breiten Highways sind voller Trucks und riesiger Autos; an der gigantischen Cola im Kino oder dem Milchkanister mit vier Unzen hebt man sich einen Bruch. Bequemlichkeit und Größe zählen, Quantität vor Qualität, alles zum Wegwerfen.
Das Gefühl der Freiheit, das die Weiten der USA auslöst, kann man sich in einem noch immer kriegsbefleckten Deutschland ebenso wenig vorstellen wie den enormen Patriotismus. Amerikaner sind stolz auf ihr Land. Die Flagge, der Star Spangled Banner, weht vor vielen Häusern. Ich kann verstehen, dass man mit mehreren Hektar Wiesen, Wald und Feldern ganz gerne eigene Waffen besitzt. Aber Freiheit bedeutet auch, dass man Eindringlinge erschießen, sein Haus mit Hakenkreuzen vollmalen, oder Mitglied des Ku-Klux-Klans sein darf.
Als mein Vater mich Mitte Juni diesen Jahres am Flughafen in Detroit abholt, bestaune ich die Sticker auf seinem Auto: „No brain? Vote Trump! Democracy or idiocracy?“ Auch vor Donald Trumps erstem Wahlkampf war ich in den USA. Damals machte man sich in Late Night Shows noch über den dummen Wirtschaftstycoon ohne politische Erfahrung lustig. Heute lacht niemand mehr. Auf der Stoßstange des riesigen Subarus meiner Stiefmutter klebt immer noch der Kamala Harris-Aufkleber von vor den letzten Wahlen. „So what about Kamala?“, frage ich sie. Ihre Stimme klingt enttäuscht: „She didn’t get a chance.“ Generell ist die politische Stimmung getrübt. Joe Biden traut man nicht zu, das anrollende Desaster aufzuhalten.
Trump ist verurteilter Straftäter mit Immunität
Mein Frühstücksei esse ich täglich von einem Tischset mit den Köpfen der amerikanischen Präsidenten. Alte Männer, zu Beginn noch mit weißen Perücken. Der Einzige, der Farbe reinbringt: Barack Obama. Das letzte Gesicht ist das des 45. Präsidenten. Der Amtseid daneben wirkt wie reinster Hohn, denn mittlerweile ist Trump verurteilter Straftäter mit Immunität für seine Vergehen. Derartige Macht hatten früher nur Könige. Die gab es auch noch, als die Gründerväter voller Idealismus 1776 politische Richtlinien der USA beschlossen.
Trumps Beliebtheit hat eventuell auch mit dem Schulsystem, einem weiteren US-Alptraum, zu tun. Aufgrund fehlender Chancengleichheit oder inhaltlicher Tiefe verlassen manche die High School ohne grundlegende Lese- und Schreibkenntnisse. Wegen schlechter Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte schwappt wie in Deutschland eine riesige Kündigungswelle über das Land. Viele Eltern bevorzugen das Homeschooling; vor allem tiefreligiöse Familien beschulen ihre Kinder lieber zu Hause. Die Kluft zwischen arm und reich, schlau und dumm, ist riesig. Dabei bleiben auch die Schlauen oft arm: Ein Jahr an der University of Michigan in Ann Arbor kostet knapp 30.000 US-Dollar, die teuersten Universitäten verlangen 80.000 US-Dollar. Nach dem Abschluss zahlen etliche bis Mitte 40 hohe Studienkredite.
Ich schaue mir die Dokumentation „Unfit“ an: Renommierte Psychologen analysieren, warum Trump mental und emotional ungeeignet ist, das Land zu regieren. Beweismaterial für Ferndiagnosen liegt ausreichend vor. Trotzdem denke ich, dass Trump auf absurde Art und Weise dringend notwendige Aufräumarbeiten vollstreckt. Schonungslos findet er jedes Schlupfloch im unüberschaubaren Staatenwust, spült angesammelten Dreck und Schwachstellen der Demokraten und Republikaner an die Oberfläche. Er zeigt, wie weit man es mit Rücksichtslosigkeit und alternativen ‚Wahrheiten‘ bringt und dass die bereits in Schulen antrainierte Ellenbogenschubserei und Egopolitur zu Präsidenten wie ihm führt.
Betreute Wohneinrichtung für Trump und Biden als bessere Option
Das erste TV-Duell „Biden vs. Trump“ beginnt mit Einspielern wie vor einem Boxkampf. Doch was folgt, ist verstörend: Biden stottert, wirkt abwesend; Trumps Aussagen, wie etwa zu Abtreibungen, strotzen vor Dummheit: „You cannot cut out a nine-month-old baby from its mother’s womb!” Er sagt, dass Immigranten aus Gefängnissen und Irrenhäusern kommen und Frauen töten. Trotzdem wirkt er souverän, Biden hingegen als bräuchte er eine Infusion. Am Ende zanken sie, wer besser Golf spielt. Beide wären in einer betreuten Wohneinrichtung sichtlich besser aufgehoben.
Wenige Tage später will Biden in einem CNN-Interview zeigen, dass er bei der Debatte nur einen schlechten Tag hatte – ohne Erfolg. Der Frust steigt, amerikanische Bekannte sind wütend: Biden hatte versprochen, ein „one-term-president“, eine Brücke zwischen Trump und einer jüngeren Generation der Politik, zu sein. Nicht zwischen Trump und Trump! Doch Heldinnen und Helden werden in herausfordernden Zeiten geboren. Laut Umfragen kann für Amerikaner nur eine das Land retten: Michelle Obama! Ein Leserbrief von Hollywoodstar George Clooney erscheint in der New York Times: „I love Joe Biden, but we need a new nominee.“ Clooney ist nicht irgendwer: Seit Jahren veranstaltet er wichtige Fundraising-Events für die Demokraten. Auch Schauspieler Michael Douglas äußert öffentlich seine Bedenken.
Mein Vater und ich diskutieren derweil: Warum hat eigentlich noch niemand versucht, Trump zu erschießen? Als nur Tage darauf die Nachricht über das Attentat kommt, haben wir fast ein schlechtes Gewissen. Die Medien zeigen ein geradezu ikonisches Foto: Vor schwarzgekleideten Secret Service Agenten reckt Trump mit blutendem Gesicht und wehender amerikanischer Flagge die kampfbereite Faust empor. Die Meinungen spalten sich: Die einen feiern einen Märtyrer, die anderen betrauern den missglückten Anschlag.
Wenig später schaue ich mir die erste Trump-Rallye nach dem Mordversuch auf FOX News an, dem „Trump-Sender“, wie mein Vater sagt. Viele Menschen tragen solidarische Ohrenbinden. Kid Rock performt, Wrestler Hulk Hogan zerreißt sein Hemd und schreit: „This is how angry I am about the shooting! DONALD TRUMP IS A SUPERHERO!“ Auch Trumps Enkeltochter soll auftreten, ihren Großvater „vermenschlichen“ – denn, dass der ein Mensch ist, könnte man glatt vergessen: „Donald Trump is God’s son, Jesus saved him because he is our savior.“
Kamala Harris als neue Hoffnung der Demokraten
Kurz darauf tritt Joe Biden von der Kandidatur zurück. Trumps Überleben hat im Lager der Demokraten unaufhaltsame Dringlichkeit ausgelöst: Einen Gegner wie ihn besiegt man nicht auf alten Pferden! Nach kurzen Spekulationen über den Ersatz wird klar: Kamala Harris ist da!
Plötzlich regt sich etwas im erstarrten Amerika. Innerhalb von 24 Stunden sammelt sie mehr als 100 Millionen US-Dollar Spendengelder. Neue Hoffnung keimt auf, vielleicht kann sie Trump besiegen. Sie, die erste weibliche Vize-Präsidentin, Einwanderertochter einer indischen Mutter und eines jamaikanischen Vaters, die seit Jahren für Fortpflanzungsrechte kämpft und ein neues Narrativ schafft: Prosecuteor versus fellon – Staatsanwältin gegen Straftäter. Harris sagt, sie kenne Männer wie Trump, habe bereits viele wie ihn weggesperrt. Sie würde ihn niederstrecken.
Trumps größter Supporter ist Elon Musk. Public endorsements, wichtige öffentliche Unterstützungen, bekommt er von kleineren Stars wie Dennis Quaid, Roseanne Barr oder Rapper 50 Cent. Auf den beliebten Parteikollegen Arnold Schwarzenegger kann er nicht zählen. Der äußerte sich in einem Interview entsetzt über Trump: „It is so sad for our party.“
Endlich postet Harris auf Instagram, worauf die USA gewartet haben: Die Obamas rufen an! Michelle sagt: „My girl Kamala, we are so proud to endorse you. This is going to be historic.“ Harris sorgt zudem für Trends in den Sozialen Medien, die sie für „goofy dances“, Weisheiten ihrer Mutter und das laute Lachen feiern. Popstar Charli XCX, selbst Tochter einer indischen Mutter, erteilt ihr – in Anlehnung an ihr giftgrünes Album „Brat“ – auf Instagram den Ritterinnenschlag der Gen Z: Kamala is brat. Eine „Göre“, die auf „Hater“ und Regeln pfeift und bekommt, was sie will. Und Brats wissen: Der Platz einer Frau ist im Weißen Haus! Das findet auch Beyoncé und erlaubt die Verwendung ihres Songs Freedom für die Wahlkampagne.
„Childless Cat Lady“ – ein Angriff gegen Harris läuft ins Leere
Etwas unfreiwillig ebnet Trumps Vize JD Vance, Rechtsanwalt, Senator von Ohio und Kämpfer für den Mittelstand, den Weg für Harris mit einem alten Video: Sie wäre eine „miserable, childless cat lady“ und habe in der Politik nichts zu suchen, weil sie nie Kinder geboren habe. Comedian Chelsea Handler kontert: Bislang war noch kein einziger Präsident der Vereinigten Staaten Mutter! Vance wusste offenbar nicht, dass man sich mit mächtigen Katzendamen nicht anlegt. Die riesige Fangemeinde von Taylor Swift und ihren drei Katzen ist erbost, auch Talkshowikone Oprah Winfrey hat sich der wachsenden „Childless Cat Ladies For Kamala“-Bewegung angeschlossen. Abgeordnete beider Parteien, die karrierebedingt kinderlos geblieben sind, ärgern sich ebenso über Vances Aussage wie Jennifer Aniston, eine weitere einflussreiche – und unfreiwillig kinderlose – Amerikanerin. Harris bekommt indes den Spitznamen „Momala“, wie ihre Stiefkinder sie liebevoll nennen.
Vance betitelte Trump 2016 noch als Amerikas Hitler und zynisches Arschloch. Heute nennt er ihn einen großartigen Präsidenten. Im Bestseller Hillbilly Legacy beschreibt Vance seine Familiengeschichte voller Alkohol und Drogenmissbrauch. Ein solches Erbe wiegt schwer und hat Vance sich nicht intensiv mit einer Aufarbeitung beschäftigt, trägt er es in sich. Egal, ob er in Yale studiert hat oder nicht. Trump verteidigt ihn: Harris wäre „dumb and stupid“ und Vance möge nun mal Familie. Außerdem sollte man Wählerstimmen von Eltern stärker gewichten. Durch ihren Nachwuchs setzen die sich wenigstens für die Zukunft des Landes ein!
Dann zaubert Harris Tim Walz aus dem Hut: Governor von Minnesota, ehemaliger Lehrer, Football Coach, Veteran, Supporter der LGBTQ-Rechte, Tierliebhaber und Jäger, der vernünftige Waffengesetze befürwortet. Öffentlich spricht er über die Liebe zu seiner Familie und seinen Kindern, übrigens gezeugt durch künstliche Befruchtung. Erneut schießen sich die Republikaner mit Diffamierungsversuchen ins eigene Knie: Mit der Aussage, Walz hätte als Flieger „nie einen Fuß auf fremden Boden gesetzt“, verprellten sie Veteranen, die in den USA ein hohes Ansehen genießen. Die Betitelung „Tampon Tim“, weil Walz in Minnesotas Schulen Periodenprodukte auf allen Toiletten – aus Rücksicht auf Transgender-Kinder auch bei den Jungs – einführte, macht Walz nicht nur bei der queeren, sondern vor allem bei der menstruierenden Wählerschaft beliebt. Trumps Kommentar: „Walz likes everything transgender.“ Trump will Transsexualität strafbar machen.
Harris trifft sich unterdessen mit der „100 Black Man Conference“ in Atlanta, Repräsentanten einer Wählergruppe, an der Hilary Clinton scheiterte. Denn die Mehrheit der Afro-Amerikaner – obwohl schwarze Wähler tendenziell demokratisch wählen – traut einer Frau die Präsidentschaft nicht zu, lässt sich politisch nicht mobilisieren. Doch das soll sich ändern. Harris und Walz aktivieren ungesehene Gruppen und viele Spendengelder kommen von Erstspendern. Nun bleibt zu hoffen, dass sich alle rechtzeitig als Wähler registrieren und dann auch wählen.
Mom und Dad of America
„Momala“ und „Tampon Tim“ touren mittlerweile gemeinsam mit Mann und Frau im Bus durch die Staaten, zeigen sich auf Instagram lachend beim Chipskauf in der Tankstelle. Sie sind ein eingespieltes Team: Mom und Dad of America. Trump kündigt an: „There will be a bloodbath if I lose!“ Er und Vance wirken wie der wirre Opa, der alle beschimpft, und sein renitenter Enkel.
Aber auch ihre Anhänger haben Bedürfnisse und Sorgen, gehören zum Land, das Harris und Walz regieren wollen. Mit elterlichem Verständnis werden sie denen verklickern müssen, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. „We won’t go back!“
Annika Reuter
Annika Reuter, ebenfalls kinderlos Katzendame, stieg 2020 nach vierzehn Jahren
aus dem Schuldienst des Landes Nordrhein-Westfalen aus und arbeitet seitdem als selbstständige Autorin, Coach und Sängerin. Als ehemalige Englischlehrerin und USA-Fan beschäftigt sie sich schon lange mit der Geschichte des Landes und besucht seit zehn Jahren regelmäßig ihren ausgewanderten Vater in Michigan. Ihr erstes Buch über den Weg aus der Schule wird bald erscheinen.