LP Ausgabe 2-2024 Editorial der Chefredakteurin Britta Lübke.

Die Wahlen in den USA und die EU

Gedanken zur aktuellen politischen Lage

Hinweis der Redaktion: Dieser und der folgende Beitrag wurden mehrere Wochen vor den US-Präsidentschaftswahlen geschrieben. Mit Vorliegen der Druckfassung des Hefts sind wir alle bereits schlauer. Die Grundtendenzen werden sich jedoch nicht verändert haben und auch die Entwicklungen im Wahlkampf zwischen Donald Trump und Joe Biden bzw. Kamala Harris werden sich nicht mehr im Nachgang ändern.

LP 2/2024 | Siebo M. H. Janssen

Viel ist von Zeitenwende in diesen Tagen die Rede. Der brutale Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat die Weltordnung tatsächlich auf den Kopf gestellt, hat gewachsene Sicherheiten in wenigen Stunden zerschlagen und uns alle vor neue, vorher für undenkbar gehaltene, Realitäten gestellt.

Die Aggression Putins gegen die Ukraine beruht nicht etwa auf einer realen Bedrohung der russischen Minderheit in der Ukraine oder einem angeblichen faschistischen System, das es zu stürzen gilt, sondern einzig und allein Putins neozaristischem Großraumdenken. Und dieses autoritäre, allen Grundlagen des internationalen Rechts widersprechende Verhalten bedurfte und bedarf einer klaren und unzweideutigen Antwort der internationalen Staatengemeinschaft.

Die EU hat dann auch – zusammen mit den USA und Kanada – unmittelbar nach dem Überfall Sanktionen gegen Putin und seine Entourage verhängt und diese im Laufe des Konflikts weiter verschärft. Außerdem wurden und werden Waffen zur Verteidigung der Ukraine aus den EU-Mitgliedsstaaten und den USA geliefert und viele EU-Mitgliedsstaaten haben großzügig ukrainische Flüchtlinge aufgenommen.

Amerikanische Nationalflagge

Deutliche Risse im europäischen Projekt

Man könnte also meinen, dass die EU insgesamt an Geschlossenheit gewonnen hat. Vordergründig erscheint dies auch so. Doch wenn man genauer hinschaut, sieht man die Risse im europäischen Projekt deutlich: die zunehmende Radikalisierung der ungarischen Regierung in Bezug auf ihr Verhältnis zu den EU-Institutionen, die Nichtumsetzung von EuGH-Urteilen bzgl. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten, die Wahlerfolge rechtspopulistischer und rechtsextremen Parteien sowie die zunehmende Zahl von Regierungen in der EU, die von Rechtspopulisten toleriert bzw. gebildet werden.

Unbestritten ist, dass die liberalen Demokratien in einer tiefen politischen Krise stecken. Die Hauptthese aus „Das Ende der Geschichte“ des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama von 1992 ist damit widerlegt. Diese Krise wird nach heutigem Kenntnisstand in den nächsten Jahren noch zunehmen, da sich die ökonomische und politische Lage aufgrund verschiedener Faktoren (z. B. Klimawandel, Krieg in der Ukraine, Aufstieg Chinas, Coronafolgen) in den liberalen Demokratien des Westens eher verschlechtern wird. Diese krisenhaft Entwicklung zeigt sich, wie unter einem Brennglas, am deutlichsten in den USA.

Der plötzliche Rücktritt Joe Bidens, nach dem misslungenen TV-Duell gegen Donald Trump, von seiner Präsidentschaftskandidatur, ebnete den Weg für seine Vizepräsidentin Kamala Harris. Harris selber war in ihrer Amtsführung eher blass geblieben. Weder war sie in der Lage, Akzente in der Migrationspolitik zu setzten, noch ist sie durch andere Initiativen wesentlich aufgefallen. Daher war es erstaunlich, wie schnell sich die Demokraten auf Harris als Nachfolgerin für Biden einigten. Hier hat sicherlich der Faktor Zeit eine wesentliche Rolle gespielt.

Anders als Harris hat Joe Biden immerhin außenpolitisch stets ein klares Profil gezeigt hat. Er hat die Ukraine massiv unterstützt, auch gegen Widerstände im Kongress. Er hat sich eng mit den europäischen Verbündeten abgestimmt und deutlich gemacht, dass Bündnisverpflichtungen für ihn keine Verhandlungsmasse sind, sondern zur Grundlage gegenseitigen Vertrauens gehören. Auch im, seit dem mörderischen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 wieder mit brutaler Gewalt entfesselten Nahostkonflikt, hat Biden versucht, durchgängig ausgleichend zu agieren. Auf der einen Seite betont er, völlig zu Recht, die unverbrüchliche Solidarität der USA mit der einzigen Demokratie in der Region; andererseits hat er wiederholt und nachdrücklich, wie auch Außenminister Blinken, Israel zur Einhaltung völkerrechtlicher Regeln sowie zur Ermöglichung humanitärer Lösungen aufgefordert.

Harris möglicherweise kritischer gegenüber Israel

Die israelische Regierung, die ultra-orthodoxe und rechtsextreme Mitglieder in ihren Reihen zählt, will von diesem Maßhalten allerdings nichts wissen und zerschneidet zusehends das Tischtuch zwischen den USA und Israel. Die Frage wird hier sein, inwieweit Harris sich, im Falle einer Präsidentschaft, von Biden distanziert und einen schärferen Kurs gegenüber Israel fahren würde. Da sie auf die jüdische sowie die arabische Wählerschaft in den USA angewiesen ist – beides traditionell Gruppen, die den Demokraten nahestehen – wird man erst nach einer möglichen Wahl genaueres über Harris‘ Kurs erfahren. Erste Aussagen lassen eine vorsichtige Verschiebung in Richtung einer kritischeren Haltung gegenüber Israel erahnen. Beim Thema Ukraine würde eine Präsidentin Harris keine großen Veränderungen vornehmen. Innerhalb der Demokraten ist die Solidarität für das angegriffene und geschundene Land nahezu einhellig und selbst im Lager der republikanischen Senatsfraktion, gibt es BefürworterInnen einer Ukraineunterstützung, so z. B. die beiden moderaten Senatorinnen Susann Collins aus Maine und Lisa Murkowski aus Alaska, aber auch der Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, unterstützt grundsätzlich die Ukrainepolitik der jetzigen Administration.

Schwieriger würde das zukünftige Verhältnis einer Präsidentin Harris zur EU werden, ist Joe Biden doch einer der letzten Transatlantiker der alten Garde; er kann über 40 Jahre außenpolitische Erfahrung und hervorragende Verbindungen in die Hauptstädte der EU und nach Brüssel vorweisen. Harris würde den Kurs Bidens nicht grundsätzlich ändern, aber – ähnlich wie schon unter Präsident Obama (2008-2016) – würden die Europäer einmal mehr und diesmal wohl nachdrücklicher als damals auf die Notwendigkeit einer verstärkten eigenen Außen- und Sicherheitspolitik hingewiesen. Die USA werden nämlich künftig, egal welche Partei den Präsident/die Präsidentin stellt, ihr Augenmerk auf den aufsteigenden Konkurrenten China lenken. Europa und damit europäische Fragen werden für die USA vor diesem Hintergrund und den massiven „domestic problems“ an Bedeutung verlieren. Auch wenn sich Veränderungen im transatlantischen Verhältnis unter einer Präsidentin Harris abzeichnen, bedeutet das keinen Bruch mit Europa, sondern eher eine stärkere Verantwortung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten für die eigene Sicherheit.

Ein völlig anderes Szenario würde sich am Horizont abzeichnen, wenn Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt würde. Schon vor seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, machte Trump deutlich, was die Welt und die USA von einer möglichen zweiten Amtszeit zu erwarten haben. Von der Durchsetzung eines von Putin und Trump oktroyierten Diktatfriedens für die Ukraine, über eine noch massivere Unterstützung Israels bis hin zu einem möglichen Rückzug aus der NATO (ein Austritt wäre nur mit einem Votum des Kongresses möglich) würde der Slogan: „America first“ in Europa und der Welt seine Schneisen reißen.

Anders als in der ersten Amtszeit Trumps, würde es in einer möglichen zweiten Legislaturperiode auch keine Kräfte mehr geben, die Trump bremsen würden. Seinerzeit verhinderten Außenminister Tillerson, Verteidigungsminister Matthis und Trumps Sicherheitsberater in manchen Fällen offensichtlich Schlimmeres. Die neue Administration hingegen würde sich, so kann man in der ca. 900 Seiten starken Anleitung zum Regieren lesen, herausgegeben von der ultrakonservativen Heritage-Foundation, nur aus Personen zusammensetzen, die als absolut loyal zu Trump gelten. Loyalität wird dort zum einzigen Qualitätskriterium erhoben. Auch wenn Trump sich, halbherzig, von dem Project 2025 genannten Papier distanziert hat, zeigen seine zahlreichen Äußerungen doch, was er von seinem direkten Umfeld erwartet. Die Aussichten auf eine zweite Amtszeit Trumps sollten die Europäer daher außerordentlich wachsam werden lassen und ihnen noch einmal verdeutlichen, dass ein außen- und sicherheitspolitisches „Weiter so“ keine Grundlage für die Zukunft der EU bietet.

Neuer Höhepunkt der Polarisierung

Sollte Trump nicht gewählt werden, droht hingegen ein Bürgerkriegsszenario gegen das der 6. Januar 2021 (Sturm auf das Kapitol) wohl nur ein Vorgeschmack war. Schon heute erklären ca. 70 Prozent der Anhängerschaft der Republikanischen Partei, dass sie eine Wahlniederlage Trumps nicht akzeptieren würden. Trumps permanente Angriffe gegen Migranten, gegen die demokratischen Institutionen und letztendlich gegen die verfassungsmäßige Ordnung der USA zeigen deutlich Wirkung: noch nie war die Situation in den USA so polarisiert wie im Jahr 2024, noch nie war die Stimmung so aufgeheizt und gewaltbereit wie in diesem Wahlkampf. Den Hass den Trump selbst gesät hat, ist in tragischerweise zweimal, in Form brutaler Attentate, auf ihn zurückgeschlagen.

Erschreckend ist, dass die Republikanische Partei weitgehend die Augen vor der Politik Trumps verschließt, nicht den Mut oder den Willen findet, ihn in die Schranken zu weisen. Sicherlich, es gibt Republikanerinnen und Republikaner, die ihre Unterstützung für Kamala Harris kundtun; diesen Mut bezahlen sie aber mit dem Verlust ihrer Wahlkreise bzw. ihrer Parteimitgliedschaft. Denn die Enthemmung Trumps braucht, um erfolgreich zu sein, eben auch die Enthemmung der republikanischen Basis. Liz Cheney, John Kasich, Mike Pence und andere Republikaner haben erfahren, was es heißt, von Trumps Anhängerschaft verachtet zu werden.

Hinzu kommt Trumps Spielen mit Gewalt- und Vernichtungsfantasien von politischen Gegnern, kritischen Journalistinnen, überhaupt jedem der Kritik an ihm äußert, sowie sein abgrundtiefer Hass auf Migranten und Flüchtlinge gepaart mit der Idee einer Straflosigkeit für mögliche Gewaltexzesse der Polizei gegen potenzielle Straftäter, Jugendbanden und andere Gruppen, die aus Trumps Sicht keine Lebensberechtigung haben und das Bild von den sauberen, weißen USA stören.

Wer die Wahl gewinnt, entscheidet sich am 5. November 2024 in den sieben „battleground states“: Wisconsin, Michigan, Pennsylvania, Arizona, Nevada, Georgia und North Carolina. Im Moment ist das Rennen so eng, das keine definitive Aussage gemacht werden kann. Zwar würde Harris bei einer Direktwahl mit knappen 49 Prozent gegen Trump mit 46 Prozent (Stand: 15. Oktober 2024) gewinnen. Da aber die Bundesstaaten Wahlmänner entsenden und in 48 von 50 Bundesstaaten das „the winner takes ist all“ Prinzip gilt (Ausnahme Maine und Nebraska – hier gilt ein Verhältniswahlrecht), ist das Ergebnis absolut offen. Weder hat es Harris bis zum heutigen Tag geschafft, eine deutliche Mehrheit der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner von der Notwendigkeit ihrer Präsidentschaft zu überzeugen, noch ist es Donald Trump gelungen, die Mehrheit für seine Verschwörungstheorien und Hasstiraden zu begeistern. Am Ende wird die Wahl weder von den fröhlichen Harris Unterstützerinnen in New York und San Francisco gewonnen noch von den wütenden MAGA (Make America great again) Skandierern in Alabama oder Ohio, sondern von denen, die als Independents oder Unentschiedene gelten. Für sie wird am Wahltag entscheidend sein, wer von beiden überzeugender ist und dafür sorgt, dass die ökonomischen Perspektiven auch in schwierigen Zeiten stabil bleiben.

Eine Wiederwahl Donald Trumps ist also keinesfalls ausgeschlossen, auch wenn dies für die USA, die Welt und die EU vier weitere verlorene Jahre bedeuten würde. Für die autokratischen Systeme – innerhalb der EU und im globalen Kontext – wäre eine Wahl Donald Trumps ein weiteres Hochfest in Richtung Zerstörung der liberalen Demokratien, für die Kräfte denen Begriffe wie Rechtsstaat, Internationalität, völkerrechtliche Normen, demokratische Verfahren und politischer Anstand etwas bedeuten, wäre Trumps erneute Wahl hingegen ein dramatisches Alarmzeichen in Bezug auf die tatsächliche Schwäche der liberalen Demokratie.

Siebo Janssen

Siebo Janssen

Siebo Janssen ist Politologe und Dozent mit verschiedenen internationalen Lehraufträgen. Er studierte Politische Wissenschaften der Neueren- und Neuesten Geschichte, des Staats-, Völker- und Europarechts sowie der Staats- und Rechtsphilosophie in Köln, Bonn, Münster und Nijmegen (NL). Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rijksuniversiteit Groningen (NL) sowie an der Universität zu Köln.