LP Ausgabe 2-2024 Editorial der Chefredakteurin Britta Lübke.

Reisebericht aus der Ukraine

LP 2/2024 | David Grasveld

Anfang Juli diesen Jahres war ich als Teil einer Delegation von Vertretern europäischer liberaler Jugendorganisationen in die Ukraine eingeladen. Wir sollten so am Sommercamp unserer Partnerorganisation Ze!Molodizhka teilnehmen und vor Ort einen Einblick in die aktuelle Situation des Landes gewinnen.

Uns allen war klar, dass diese Reise trotz der ersichtlichen Risiken in vielerlei Hinsicht sehr eindrücklich und bewegend werden würde. Zudem stellte es eine einzigartige Chance dar, dieses seit nunmehr zweieinhalb Jahren vom russischen Angriffskrieg geprägte Land näher kennenzulernen. Einige meiner dort gewonnenen Eindrücke und Erfahrungen möchte ich im Folgenden gerne teilen.

Bereits vor unserer Abreise wurde uns auf drastische Weise vor Augen geführt, wie allgegenwärtig der Krieg in der Ukraine weiterhin ist. So wurden wir während der Reisevorbereitung dazu aufgefordert, eine App für den Luftalarm zu installieren. Diese App sollte für die Dauer unseres Aufenthalts ein treuer Begleiter werden und uns mehrmals aus dem nächtlichen Schlaf wecken, wenn für unsere Region oder die gesamte Ukraine Luftalarm ausgelöst wurde. Auf so eine unmittelbare Weise vor die Tatsache gestellt zu werden, dass man angegriffen werden und reale Gefahr für Leib und Leben bestehen könnte, war für die meisten von uns sehr bedrückend.

Reisebericht aus der Ukraine

Eine weitestgehend runde Anreise

Allein schon die Anreise nach Kiew an sich gestaltete sich abenteuerlich, da aufgrund des Krieges alle zivilen Flugverbindungen unterbrochen sind und die Einreise in die Ukraine somit hauptsächlich per Nachtzug aus Polen erfolgt. Dank der hervorragenden Vorbereitung unserer Gastgeber Ze!Molodizhka, die als Jugendorganisation von Präsident Selenskis Partei Sluga Narodu direkte Beziehungen zur ukrainischen Regierung haben, hatte man unserer Delegation einen gesonderten, privaten Waggon am Kopf des Zuges zur Verfügung gestellt. Bis auf einige Verzögerungen bei der Passkontrolle an der polnisch-ukrainischen Grenze und dem Umstellen der Spurweite des Zuges von Normalspur auf sowjetische Breitspur verlief die Reise weitestgehend rund. Während wir durch die weitläufigen, agrarisch geprägten Landschaften Richtung Kiew fuhren und die Sonne langsam unterging, drang zum ersten Mal vollständig zu mir durch, dass ich mich nun in der Ukraine befand, jenem Land, über das man in den vergangenen zweieinhalb Jahren so viel in den Nachrichten gehört hatte, aber das man zugleich doch so wenig kannte.

Nachdem wir nach knapp 13 Stunden Fahrt am sehr frühen Morgen in Kiew angekommen waren, führten uns unsere Gastgeber durch die Stadt, wo wir unter anderem das St. Michaelskloster, den Majdan und die Mutter Ukraine Statue besichtigten. Da die Stadt zu früher Stunde gerade erst langsam aus dem Schlaf erwachte und die Straßen sich noch allmählich füllen mussten, machte Kiew in der morgendlichen Sommersonne fast schon einen friedlichen Eindruck, wären da nicht die zahlreichen Ausstellungen erbeuteter russischer Militärgüter auf den öffentlichen Plätzen der Stadt gewesen. Stolz präsentieren die Ukrainer dort russische Panzer, Fahrzeuge und Ausrüstungsgegenstände, die sie auf dem Schlachtfeld erbeuteten und zur Demütigung anschließend mit ukrainischen Flaggen und Farben versehen haben.

Anschließend fuhren wir nach Irpin, einem Vorort Kiews, der gemeinsam mit Butscha während der ersten Kriegswochen zum Sinnbild russischer Massaker wurde. Dort trafen wir uns mit dem Bürgermeister und einigen Mitgliedern des Jugendgemeinderats, die uns auf bewegende Weise von ihren Erinnerungen an den russischen Überfall erzählten und berichteten, wie sie die Stadt seitdem Stück für Stück wiederaufbauten. Tatsächlich war die Stadt zum Zeitpunkt unseres Besuchs weitestgehend wiederhergestellt worden, aber dennoch sah man in einigen Häusern Einschusslöcher und Brandspuren, die von den Kriegshandlungen in 2022 zeugten und noch nicht beseitigt worden waren.

Von den ukrainischen Streitkräften selbst gesprengte Brücke.

Denkmal des Widerstands und Mahnmal für die Opfer

Im Anschluss daran führte man uns zu einer strategisch wichtigen Brücke zwischen Irpin und Kiew, die zu Beginn des russischen Einmarsches von den ukrainischen Streitkräften selbst gesprengt wurde. Damit sollte ein weiteres Vorrücken der russischen Truppen auf die ukrainische Hauptstadt verhindert werden – mit entscheidendem Erfolg. Letztlich konnte auch damit der russische Vormarsch auf Kiew gestoppt werden, die Hauptstadt wurde nicht eingenommen und die Besatzer mussten sich nach einigen Wochen wieder nach Belarus zurückziehen. Die Brücke ist in ihrem zerstörten Zustand seit 2022 unverändert erhalten geblieben und dient nun als Denkmal für den tapferen Widerstand der ukrainischen Streitkräfte.

Viele von uns werden sich sicherlich noch an die Bilder erinnern, die nach dem Rückzug der russischen Besatzer aus Butscha und Irpin um die Welt gingen. Darauf zu sehen waren reihenweise Autos, teilweise ausgebrannt und verrostet, die von flüchtenden Ukrainern stammten und zurückgelassen werden mussten, bevor sie von den russischen Invasoren zerstört oder in Brand gesetzt wurden. Einen Teil dieser Fahrzeuge hat die Gemeinde Irpin zu einem beeindruckenden Mahnmal aufeinanderstapeln lassen. So gedenken sie der Opfer, die auf der Flucht ermordet wurden. Zusammen mit der zerstörten Brücke war dieses Mahnmal einer der beeindruckendsten Orte, die wir besichtigten, da sie einem den Kriegsverlauf und die damit verbundenen persönlichen Schicksale greifbar nahebrachten.

Den Rest des Wochenendes verbrachten wir hauptsächlich damit, auf dem Sommercamp die Mitglieder von Ze!Molodizhka näher kennenzulernen und uns mit ihnen auszutauschen. In zahlreichen persönlichen Gesprächen beeindruckte mich dabei immer wieder die Zuversicht, die die Ukrainer trotz der teilweise bedrückenden Situation zeigten. Mir fiel besonders auf, wie sehr sie sich nach einer endgültigen Trennung vom post-sowjetischen Einflussbereich und stattdessen einer Anbindung an den Westen sehnten und unsere westlichen Ideale teilten. Außerdem ist hervorzuheben, dass die Ukrainer zu den freundlichsten, herzlichsten und zuvorkommendsten Menschen gehören, denen ich jemals begegnet bin. Das gesamte Wochenende über haben sie uns mit einer Gastfreundschaft empfangen, die uns wie zuhause fühlen ließ.

Während wir auf der Rückreise mit dem Bus zum Bahnhof fuhren und ich meine letzten Minuten in Kiew verbrachte, schaute ich aus dem Fenster und fragte mich, ob eines dieser Häuser, an denen ich gerade vorbeifuhr, in Zukunft womöglich einem russischen Angriff zum Opfer fallen würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, dass einer der heftigsten Angriffe des gesamten Kriegsverlaufes auf Kiew kurz bevorstand. Nur wenige Stunden später traf eine Salve Raketen die Stadt; ein Kinderkrankenhaus wurde dabei zerstört, 37 Todesopfer waren zu beklagen und über 170 Verletzte zu behandeln. Als bitterer Beigeschmack bleibt, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits außerhalb von Kiew im Zug zurück nach Polen befand; währenddessen können die Ukrainer ihr Land nicht ohne weiteres verlassen und viele junge Männer in meinem Alter blicken der Einberufung mit Furcht entgegen.

Ausstellung erbeuteter russischer Militärgüter

Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU

Rückblickend kann ich sagen, dass die Reise mich persönlich vor allem in der Überzeugung gestärkt hat, dass die Zukunft der Ukraine definitiv im Westen und insbesondere in der Europäischen Union liegt. Im Gegensatz zu Viktor Orbáns Ungarn und dessen kontraproduktiven Bestrebungen, die EU von innen zu blockieren und auszuhöhlen, sehnen sich die Ukrainer nach einer EU-Mitgliedschaft und sind willens, sich den dafür notwendigen Reformen zu unterziehen. Auch wenn die Ukraine einige der für eine EU-Mitgliedschaft notwendigen Kopenhagen-Kriterien momentan noch nicht erfüllen mag, so spricht doch vieles dafür, dass sie dies in absehbarer Zeit tun wird.

Studien zufolge sind die aktuellen institutionellen Standards der Ukraine beispielsweise vergleichbar mit denen Rumäniens und Bulgariens zu dem Zeitpunkt, als diese in den Neunzigerjahren ihre jeweiligen Beitrittsgesuche stellten. Und beide Länder schafften es wie bekannt anschließend erfolgreich, sich in die Union einzugliedern. Auch wirtschaftlich gesehen ist die Leistungsfähigkeit der Ukraine nicht etwa grundsätzlich niedriger als bei früheren Beitrittskandidaten, sondern vergleichbar mit anderen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zu dem Zeitpunkt, als diese ihren Mitgliedsantrag stellten. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich auch die Ukraine in eine ähnliche Richtung entwickeln wird. Sobald sie die Kopenhagen-Kriterien ausreichend erfüllt, steht ihrer EU-Mitgliedschaft meiner Meinung nach nichts mehr im Wege.

David Grasveld

David Grasveld

David Grasveld ist International Officer im Bundesvorstand der Liberalen Hochschulgruppen und war zuvor langjährig im internationalen Komitee der Jungen Liberalen aktiv. Er hat einen Bachelor in Internationalen Beziehungen und studiert momentan politische Philosophie an der Universität Groningen in den Niederlanden.