Ein Land verschwindet

LP 1/2025 | Iris Lehmann

In diesem Sommer wird der Dalai Lama 90 Jahre alt. Längst ist er zum Symbol für Tibet geworden, ein Hoffnungsträger für die Tibeter in Tibet wie im Exil, ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis. Sein Schicksal ist eng verbunden mit der jüngeren Geschichte Tibets – einem Land, das es, ginge es nach der Führung der Volksrepublik (VR) China, nicht mehr geben sollte. Seit bereits mehr als 70 Jahren hat die VR China Tibet besetzt – und nun versucht sie seit einigen Jahren, auch noch den Namen Tibet auszulöschen.

Mehr als 2100 Jahre eigene Geschichte

Tibet: ein Land mit einer langen Geschichte sowie Kultur und flächenmäßig einer beachtlichen Größe. Immer wieder kann man lesen, Tibet liege am oder gar im Himalaya. Dabei ist der relativ schmale, aber rund 2.500 km lange Himalaya nur der südliche Rand des tibetischen Hochlandes, das eine Fläche von rund 2,5 Millionen km² einnimmt und in etwa das Gebiet Tibets vor seiner Besetzung ausmachte.

Das erste tibetische Königreich gründete der Überlieferung nach Nyatri Tsenpo im Yarlung-Tal, etwa 100 km südöstlich von Lhasa gelegen. Mit der Gründung der Yarlung-Dynastie 127 v.Chr. beginnt auch die bis heute angewandte tibetische Zeitrechnung; am 28. Februar dieses Jahres begann das Jahr 2152.

Eine herausragende Rolle in der Reihe der Yarlung-Könige spielte der 32. König Songtsen Gampo, der von etwa 618 n.Chr. bis zu seinem Tod 649 n.Chr. herrschte. Er errichtete ein erstes tibetisches Großreich und verlegte seine Hauptstadt aus dem Yarlung-Tal nach Lhasa, wo er einen ersten Palast an der Stelle des heutigen Potala bauen ließ. Sein Minister Thonmi Sambhota entwickelte die heute noch gültige tibetische Schrift.

Im siebten nachchristlichen Jahrhundert fasst der Buddhismus Fuß in Tibet

Um in Frieden mit seinen Nachbarn leben zu können, heiratete Songtsen Gampo die Prinzessin Bhrikuti Devi aus dem Licchavi-Reich im heutigen Nepal als erste Frau, dann zwei Tibeterinnen und schließlich als vierte Frau die Prinzessin Wencheng aus dem Tang-Reich. Beide Prinzessinnen waren Buddhistinnen und brachten je eine kostbare Buddha-Statue mit nach Tibet, für die Songtsen Gampo jeweils einen Tempel in Lhasa errichten ließ, wo sie noch heute zu sehen sind. Damit begann auch der Buddhismus in Tibet Fuß zu fassen, wo es bis dahin nur die Bön-Religion gegeben hatte. Bezeichnenderweise beruft sich die VR China immer wieder auch auf Prinzessin Wencheng und behauptet, dass seitdem Tibet ein Teil Chinas sei. Seine wohl größte Ausdehnung erreichte das tibetische Königreich Ende des 8. Jahrhunderts, im 9. Jahrhundert allerdings zerfiel es wieder in diverse Kleinstaaten. In einer wechselvollen Geschichte über die weiteren Jahrhunderte erhielt sich aber immer eine tibetische Macht mit einem Staatsgebiet, bestehend aus den drei Provinzen Amdo, Kham und U-Tsang, und seinem Volk.

Der Dalai Lama – religiöses und dann auch weltliches Oberhaupt

Im 16. Jahrhundert kam dann die Institution der Dalai Lamas hinzu. Der mongolische Fürst Altan Khan verlieh seinem religiösen Lehrer Sonam Gyatso 1578 den Ehrentitel Dalai Lama, wobei Dalai mongolisch „Ozean“ bedeutet und der Titel oft mit „ozeangleicher Lehrer“ übersetzt wird. Sonam Gyatso, der dritte Abt des Klosters Drepung, eines der drei großen Klöster Tibets neben Sera und Ganden, übertrug diesen Titel posthum auch auf seine beiden Vorgänger im Kloster Drepung und wurde somit selbst zum dritten Dalai Lama.

1642 ernannte der mongolische Fürst Gushri Khan, der zuvor Zentraltibet erobert hatte, den 5. Dalai Lama zur obersten Autorität von ganz Tibet. Seitdem waren die Dalai Lamas immer sowohl das religiöse als auch weltliche Oberhaupt Tibets und regierten ab da zusammen mit dem Kashag (Kabinett).

So war es auch für den jetzigen Dalai Lama vorgesehen, allein es kam anders.

Geboren wurde er am 6. Juli 1935 in dem kleinen Ort Taktser in der Provinz Amdo. Nach seiner Anerkennung als Wiedergeburt des verstorbenen 13. Dalai Lama reiste er 1939 mit seiner Familie nach Lhasa. Am 22. Februar 1940 fand die offizielle Inthronisierung als 14. Dalai Lama statt, er erhielt den Namen Jamphel Ngawang Lobsang Yeshe Tenzin Gyatso, kurz Tenzin Gyatso, und seine Ausbildung als Mönch begann.

75 Jahre Unterdrückung durch die VR China

Tibet war da ein unabhängiges Land, das allerdings keine Rolle auf der großen Weltbühne spielte. Alles änderte sich fast schlagartig, nachdem Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausgerufen und die „Befreiung Tibets“ angekündigt hatte. Schon im September waren die ersten chinesischen Soldaten in Amdo eingefallen, 1950 marschierten sie dann auch in der Provinz Kham ein. Ein Protest der tibetischen Regierung am 11. November 1950 bei den UN blieb folgenlos. In Anbetracht der bedrohlichen Lage wurde der Dalai Lama am 17. November 1950 vorzeitig offiziell zum weltlichen Oberhaupt Tibets ernannt.

Am 23. Mai 1951 unterschrieb eine tibetische Delegation in Peking unter Druck das sogenannte 17-Punkte-Abkommen. Tibet sollte innenpolitische Autonomie und Religionsfreiheit erhalten, Außenpolitik und militärische Angelegenheiten jedoch sollten von China bestimmt werden. Damit wurde die Annexion besiegelt.

Da sich aber China kaum an diesen Vertrag hielt, kam es schon bald zum Widerstand der Tibeter und im März 1959 zu Aufständen. Am 17. März floh der Dalai Lama aus Lhasa und erreichte am 31. März Nordindien, wo er nur einen Monat später die tibetische Regierung im Exil gründete. Ein Jahr später zogen er und die Regierung nach Dharamsala, wo beide bis heute ihren Sitz haben.

Flucht und Zerstörung

Etwa 80.000 Tibeter flohen unmittelbar nach der Flucht des Dalai Lama ebenfalls nach Indien sowie nach Nepal und Bhutan, Tausende folgten Jahr für Jahr. Doch seit etwa zwanzig Jahren ist aufgrund der dichten Grenzkontrollen der Chinesen eine Flucht über den Himalaya kaum noch möglich. Die größte Exilgruppe lebt in Indien, 2011 waren es etwa 150.000 Tibeter. Doch seitdem ziehen immer mehr von ihnen fort, vor allem in die USA und nach Kanada, aber auch in die Schweiz.

In Tibet wüteten die Besatzer und zerstörten noch vor Beginn der Kulturrevolution fast alle Klöster und andere bedeutende Bauwerke. Erst nach der Öffnung Tibets für westliche Touristen in den 1980er Jahren wurde mit dem Wiederaufbau von Klöstern begonnen.

1965 wurde Tibet verwaltungsmäßig neu aufgeteilt: U-Tsang und Teile von Kham wurden zur „Autonomen Region Tibet“, Amdo und das übrige Kham wurden in chinesische Verwaltungsgebiete eingeordnet. Damit wurde fortan meist auch international nur noch weniger als die Hälfte des historischen Staatsgebietes als Tibet bezeichnet. Noch perfider geht China seit 2023 vor: Statt von Tibet ist nur noch von Xizang und der „Autonomen Region Xizang“ die Rede. Der Begriff „Xizang“, das „westliche Schatzhaus“, ist nicht neu, wurde bisher aber fast nur innerhalb Chinas benutzt.

Das Ziel: Vernichtung der gesamten tibetischen Identität

Nicht nur der Name, auch die Kultur und Sprache und damit die Identität der Tibeter sollen ausgelöscht werden. Dabei greifen die Chinesen auf ein „altbewährtes“ Mittel zurück: Seit einigen Jahren müssen tibetische Kinder in Internatsschulen gehen, in denen nur noch in Mandarin unterrichtet wird und sie untereinander nicht mehr Tibetisch sprechen dürfen. Oft sind diese Schulen so weit entfernt, dass Kinder und Eltern sich nur noch selten sehen können.

Das „westliche Schatzhaus“ wird bereits seit Jahrzehnten von China ausgebeutet: Holz aus Osttibet, Förderung zahlreicher Bodenschätze, Umleitung von Wasser aus tibetischen Flüssen in den niederschlagsarmen Norden Chinas, Stromgewinnung aus Wasserkraftwerken in tibetischen Flüssen. Jüngstes Beispiel ist das erst im Dezember 2024 genehmigte, weltweit größte Wasserkraftwerk, das am Yarlung Tsangpo im östlichen Himalaya errichtet wird. Der Bau erfolgt in einem stark erdbebengefährdeten Gebiet und ohne Rücksicht auf Umweltschäden und die spürbaren Folgen am Unterlauf in Indien und Bangladesch.

Für die mittlerweile überwiegend chinesischen Touristen ist Tibet so etwas wie ein großes Disneyland, wo selbst Nomaden und Yaks nur noch als Touristenattraktion vorgeführt werden.

Diplomatische Bemühungen des Dalai Lamas

Unermüdlich hat der Dalai Lama versucht, eine Lösung für Tibet oder zumindest Zugeständnisse für die Tibeter in Tibet zu erwirken. Seit den 1970er Jahren reiste er immer wieder nach Europa und in die USA, um auf die Situation in Tibet aufmerksam zu machen. Es gab mehrere Gespräche zwischen Vertretern der Exilregierung und chinesischen Regierungsvertretern, in Straßburg legte der Dalai Lama einen „Fünf-Punkte-Friedensplan“ vor. Er fordert echte Autonomie für Tibet, nicht Unabhängigkeit.

Dabei wurde mehrfach festgestellt, dass China Tibet völkerrechtswidrig besetzt hat, so 1960 durch die International Commission of Jurists und 1989 bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag. Von dem Völkerrechtler Dr. Michael van Walt van Praag erschienen dazu 1987 das Buch „The Status of Tibet“ und 2024 das Buch „Tibet erklärt“, zusammen verfasst mit Miek Boltjes. Die Autoren legen klar dar, dass Tibet – anders als von der VR China behauptet – nie ein Teil von China war. Tibet-Gruppen und Exiltibeter weltweit engagieren sich, damit Tibet nicht vergessen wird und Politiker sich für Tibet einsetzen.

Im Mai 2011 trat der Dalai Lama von seinem politischen Amt zurück, im August 2011 übernahm Dr. Lobsang Sangay als erster gewählter Sikyong (Premierminister) sein Amt. Seitdem gibt es eine demokratisch gewählte Regierung. Wünschenswert wäre, dass die westliche Welt endlich diese tibetische Exilregierung und Tibet als völkerrechtswidrig besetztes Land offiziell anerkennt.

Iris Lehmann

Iris Lehmann

Iris Lehmann ist seit mehr als 30 Jahren Mitglied der Tibet Initiative Deutschland und Leiterin einer ihrer Regionalgruppen. Zwischen 1986 und 2014 reiste sie insgesamt fünfmal nach Tibet. Sie ist Mitgründerin und die erste Vorsitzende des Vereins Freundeskreis Lo-Manthang, der Schüler und Klöster in dem tibetisch-buddhistisch geprägten Upper Mustang/Nepal unterstützt. Dadurch reist sie oft nach Nepal.