Leseverständnis ist gesellschaftliche Teilhabe
Interview mit der deutschen Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie
von Britta Lübcke
LP 1/2024 | Britta Lübcke interviewte Kirsten Boie
Die Ergebnisse der verschiedenen internationalen Studien, die die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler (SuS) überprüft haben, waren positiv ausgedrückt ernüchternd und realistisch erschreckend. Die „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) von 2021 kam zu dem Ergebnis, das ein Viertel der in Deutschland getesteten Kinder nicht einmal den international festgelegten Mindeststandard beim Lesen erreichen. Dieser Anteil (25,4 Prozent) ist im Vergleich zu 2016 (18,9 Prozent) und dem Beginn der Untersuchung 2001 (17 Prozent) stark gestiegen. Besonders der Anteil der SuS in der niedrigsten Kompetenzstufe, die nur ein rudimentäres Leseverständnis aufweisen, hat sich in den letzten 20 Jahren von 3 Prozent auf 6,4 Prozent mehr als verdoppelt. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse konnten wir die renommierte deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie für ein Interview gewinnen. Kirsten Boie ist Schirmherrin von „Buchstart“ einem Hamburger Projekt zur Förderung der kindlichen Sprachentwicklung und der Lese- und Schreibkompetenz.
Kirsten Boie ist eine der renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Nach ihrem Studium promovierte sie in Literaturwissenschaft und arbeitete anschließend als Lehrerin. 1985 erschien ihr erstes Buch, „Paule ist ein Glücksgriff“, das mehrfach ausgezeichnet wurde. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie 2007 den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises und 2008 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. 2011 wurde sie mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet. Für den Roman „Dunkelnacht“ erhielt sie den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 in der Kategorie Jugendbuch.
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit dem Thema „Leseverständnis“ bei Kindern und Jugendlichen gemacht?
Kirsten Boie Vor etwa zwanzig Jahren habe ich an einer Hauptschule gefragt, wer in der sechsten Klasse denn Harry Potter kennt und auch schon mal eins der Bücher gelesen hat. Tatsächlich gingen so gut wie alle Finger in die Luft und ich habe mich gefreut! Aber als ich dann mein Buch hochgehalten und gefragt habe, wie denn wohl das Buch heißt, aus dem ich jetzt vorlesen will, bewegten sich die Lippen und erst nach einiger Zeit wagten ein paar Kinder, den Titel stockend vorzulesen. Damals ist mir klargeworden: Was sie über Harry Potter gesagt hatten, entsprach nicht der Wahrheit, dazu reichte ihre Lesefähigkeit bei weitem nicht aus. Hätten sie ein ganzes Buch dieser Länge geschafft, wäre ihre Lesefähigkeit hinterher eine ganz andere, sehr viel bessere gewesen. Wir sollten uns also nicht weiter belügen: Viele unserer Kinder können keineswegs lesen. Und hier muss dringend einiges passieren.
Wie „funktioniert“ Leseverständnis?
KB Es geht nicht nur darum, dass Kinder in der Lage sind, Buchstaben zusammenzuziehen und daraus Wörter zu formen: Zusätzlich müssen sie in der Lage sein, auch zu verstehen, was sie da gelesen haben. Und tatsächlich ist ihnen das erst von einer bestimmten Lesegeschwindigkeit an möglich. Vorher richten sie ihre ganze Konzentration darauf, die Wörter zu entziffern – und wenn sie das letzte Wort lesen, haben sie das erste längst vergessen.
Wie hat sich das Leseverständnis in den letzten 25 Jahren in Deutschland entwickelt?
KB Bis 2001 ist das Leseverständnis tatsächlich kontinuierlich besser geworden – was außerdem auch eine positive Auswirkung auf die Leistungen in den anderen Schulfächern hatte, in denen das Lesen und Verstehen von Texten die Grundlage bildet. Seitdem erleben wir Jahr für Jahr, wie es abnimmt und das Lesen der Kinder schlechter wird.
Woher kommt mangelnde Lesekompetenz?
KB Natürlich sind das jetzt Spekulationen. Aber zum einen hat das sicher mit dem Hintergrund der Kinder zu tun: Die Zahl der Kinder, deren Hintergrund nicht deutsch ist und bei denen auch zu Hause kein Deutsch gesprochen wird, nimmt kontinuierlich zu. Wichtiger ist aber, dass in den meisten Bundesländern das Lesen nicht systematisch und so gefördert wird, wie es jetzt, unter den veränderten Bedingungen mit Handy und diversen Online-Plattformen, die die Kinder beschäftigt halten, nötig wäre.
Welche wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Folgen hat dieses mangelnde Leseverständnis eines zunehmenden Teils der Bevölkerung?
KB Die Auswirkungen sind vielfältig. Zum einen ist vielen dieser Menschen mit fehlendem Leseverständnis eine Ausbildung nicht möglich. Ihnen bleiben nur Hilfstätigkeiten, was sich auch auf ihre finanzielle Situation auswirkt und vielfach staatliche Zuschüsse auf verschiedenen Gebieten nötig macht. Außerdem ist ihre politische Informationslage gering. Komplexe Sachverhalte, die uns in schriftlicher Form erreichen, werden von ihnen nicht wahrgenommen. Wir sehen die Auswirkungen etwa, wenn rechte Parteien immer stärkere Unterstützung erfahren.
Was hat Hamburg – das sich im Bundesländer-Ranking von Platz 14 auf Platz 3 verbessert hat – gemacht, um das Leseverständnis zu fördern?
KB Hamburg hat sehr früh angefangen, hier zu Hilfsmaßnamen zu greifen. Schon bei der Vorsorgeuntersuchung mit einem Jahr bekommen die Kinder einen Rucksack mit zwei Papp-Bilderbüchern. Dazu gibt es in den verschiedenen Sprachen, die in Hamburg gesprochen werden (und das sind einige!), Hinweise für die Eltern. Dabei geht es nicht nur darum, den Kindern die beiden Papp-Bilderbücher vorzulesen, die dem Rucksack beigelegt sind, sondern auch um den Hinweis auf die „Gedichte für Wichte“-Gruppen, von denen es inzwischen in Hamburg über siebzig gibt und an denen die Eltern mit ihren Kindern kostenlos teilnehmen können.
Außerdem müssen seit gut 25 Jahren alle Kinder in Hamburg, die vier Jahre alt sind, in der Schule vorgestellt werden – ein Jahr früher, als das bisher in anderen Bundesländern geschieht. Bei dieser Vorstellung bekommen die Kinder dann „Das Hamburger Geschichtenbuch“. Ein Buch, das speziell auf die Sprachentwicklung zielt und inzwischen auch von anderen Bundesländern übernommen wurde. Die Kinder werden bei der Vorstellung nach ihrer sprachlichen Kompetenz beurteilt und in Schulen oder speziellen Vorschulklassen mit diesem Buch sprachlich gefördert. Vorschullehrerinnen und Kita-Erzieherinnen werden hierfür speziell geschult.
Ein weiterer Baustein ist das „Bildung in Sprache und Schrift“-Leseprogramm (kurz „BiSS“). In der Schule wird in den 2. bis 4. Klassen mit Hilfe des „BiSS“-Leseprogramms speziell das Lesen geübt. Kurz zusammengefasst liest hier jede Klasse jeden Tag 20 Minuten am Anfang des Unterrichts (mit ganz unterschiedlichen Methoden, die den Lehrern zur Verfügung gestellt werden) – egal, worum es in dem Fach eigentlich geht. Die Erfolge sind verblüffend.
Welche Maßnahmen zur Förderung des Leseverständnisses sollten darüber hinaus ergriffen werden?
KB Es wäre schon viel, wenn auch in allen anderen Bundesländern diese Hamburger Maßnahmen ergriffen würden. Sinnvoll wäre aber sicherlich zusätzlich, wenn das Lesen auch in den höheren Klassen noch eine größere Rolle spielen würde. So hätten auch die Kinder, die bis zum Ende von Klasse 4 noch nicht ausreichend lesen gelernt haben, eine Chance.
Welche Maßnahmen sollten sinnvollerweise schon vor der Einschulung ergriffen werden?
KB Da wir in Deutschland keine Verpflichtung haben, die Kinder in die Kita zu geben, würde ich auch in den anderen Bundesländern empfehlen, wie in Hamburg spätestens die Vierjährigen zu testen und diejenigen, die es sprachlich nötig haben, entweder in die Vorschule oder die Kita zu schicken – mit für die Sprachentwicklung geschulten Lehrkräften.
Was müsste möglicherweise auch in der Lehrerausbildung verändert werden?
KB Das Thema „Lesen lernen“ sollte in allen Bundesländern in den Vordergrund rücken. Hier haben die Lehrerinnen und Lehrer bisher noch einen von Bundesland zu Bundesland und von Universität zu Universität unterschiedlichen Stand.
Vor welchen generellen Herausforderungen steht die Bildungspolitik in Deutschland?
KB Da das Lesen in Deutschland nicht bundesweit die Rolle spielt, die ihm eigentlich zukommen müsste, und da die Länder alle ihre eigenen Methoden haben Lesen und Schreiben zu lehren, sieht es hier nicht gut aus. Nach wie vor fehlt dem Thema im Bundestag die Lobby, die es brauchen würde, um die Finanzen in dem Maß auszuweiten, wie es nötig wäre. Andere Themen sind immer wichtiger.
Wie können wir diesen Herausforderungen begegnen und welche Rolle kann/sollte die Wirtschaft dabei spielen?
KB Schon jetzt leben viele Teile der Wirtschaft davon, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen. In Deutschland finden wir nicht mehr genug Menschen, die für die verschiedenen Tätigkeiten auch qualifiziert sind. Die Wirtschaft sollte sich klarmachen, dass es in Deutschland selbst viel zu tun gibt, wenn wir nicht jedes Jahr eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern verlieren wollen. Sie sollte also vor allem diesen Aspekt der Bildungspolitik in den Blick nehmen und sich hier selbst politisch einbringen. Leseverständnis spielt für Deutschland auch wirtschaftlich eine weit größere Rolle, als gemeinhin angenommen.