Ein bewegtes Leben mit zahlreichen Volten: Weimar, Nazi-Regime und Zweiter Weltkrieg, Demokratisierung und Wiederaufbau, Kalter Krieg und Flucht in den Westen, Entspannungspolitik, NATO-Doppelbeschluss, Wende, EU-Osterweiterung, Partnerschaft mit Russland, Besetzung der Krim. In seinen gut 99 Jahren hatte Wolfgang Schollwer bis zu seinem Tod im Januar 2021 Weltgeschichte erlebt – und teilweise auch mitgestaltet.
Stets bescheiden, selbstironisch, interessiert, aufgeweckt und zuhörend – so blieb dem Autor Wolfgang Schollwer in Erinnerung. Eine Würdigung dieses Mannes war für uns als Verband liberaler Akademiker anlässlich seines 100. Geburtstags selbstverständlich. Möglich war sie aufgrund zahlreicher Spenden, die wir 2021 seinetwegen erhielten. Am 13. August 2022 konnten wir diese Würdigung am Bonner Gustav-Stresemann-Institut endlich vollziehen, ohne dass uns Corona wie noch ein halbes Jahr zuvor zum eigentlichen Geburtstagstermin im Wege stand.
Dankbar sind wir auch für die über 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Darunter befanden sich auch Schollwers Familienangehörige, wie z.B. sein Großcousin Klaus Geerdts, der abschließend bewegte und bewegende Worte an die Versammelten richtete.
Nie formell Akademiker
Wolfgang Schollwer war nie Akademiker im formellen Sinn. Doch er brachte alle positiven Charaktereigenschaften sowie den Intellekt eines Akademikers mit. Gleichzeitig bewahrte er sich eine studentische Neugierde und Offenheit. Dass er Vorsitzender, Präses wie es bei uns heißt, eines Akademikerverbandes wurde, muss man vor diesem Hintergrund und nicht alleine vor dem der Umwälzungen der späten 1960er Jahre begreifen.
Sein Leben und sein Lebenswerk wurden gewürdigt vom Historiker Dr. Jürgen Frölich. Dieser versah seinen Vortrag „Wolfgang Schollwer – Kronzeuge einer neuen Ostpolitik“ mit einem deutlichen Fragezeichen. Dr. Frölich unterteilt dabei Schollwers Lebenslauf in vier Lebens- und Wirkungsphasen: die Jugend in Potsdam, die Zeit als LDP-Funktionär dort, der Abschnitt als Mitarbeiter im FDP-Ostbüro in Bonn und letztlich die Zeit als Vordenker einer neuen liberalen Deutschland- und Ostpolitik in der FDP und dann im Auswärtigen Amt.
Besondere Wandel- und Einsichtsfähigkeit
Die unterschiedlichen Sichtweisen, ja die Entwicklung Schollwers insbesondere nach seiner Flucht nach Bonn wurde so allen Zuhörerinnen und Zuhörern greifbar; in den beiden sogenannten Schollwer-Papieren der 1960er verbunden mit einer Denkschrift vom März 1956 ist der Wandel besonders greifbar. Die Auswirkungen dieser auf die FDP bewertete Dr. Frölich als selten nachhaltig und stellte Schollwer in eine Reihe mit Karl-Hermann Flach und Otto Graf Lambsdorff.
Abgeleitet aus dem Werdegang und den jeweiligen Ausgangssituationen kam Dr. Frölich zum Schluss, dass die heutige Situation eher jener der späten 1940er und 1950er Jahre ähnelt weshalb an den damaligen Gedankengänge Schollwers anzuknüpfen wäre. Jedoch unterstrich er die besondere Wandlungs- und Einsichtsfähigkeit aus Basis einer mit preußischer Nüchternheit vollzogenen Analyse des Wolfgang Schollwer, quasi als dessen Markenzeichen. So schloss dann auch Dr. Frölich: „Eine solche Wandlungs- und Einsichtsfähigkeit hilft vielleicht auch heute bei der Suche nach einer neuen Ostpolitik, preußische Nüchternheit a la Wolfgang Schollwer in jedem Fall.“
Europas Herausforderungen mit streitbaren Schlussfolgerungen
Nach diesem Rückblick nahm der Niederländer Dr. René Cuperus den Faden auf und lenkte den Blick auf die europäische Ebene. Mit einer Nüchternheit, die sicherlich Schollwers Gefallen gefunden hätte, analysierte die aktuelle Lage Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der von Russland begonnene Ukrainekrieg bedeutete einen humanitären und geopolitischen Schock und ein „Ende des Endes der Geschichte“. Dieser geopolitische Schock des Ukrainekriegs müsse jedoch neben zwei weiteren betrachtet werden: Dem China- und dem Trump-Schock, die sowohl in den USA als auch in Europa nachdrücklich spürbar seien.
Zentrale Punkte der bisherigen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik stünden zudem im Sinne einer deutschen Zeitenwende nun zur Disposition: Die Nachkriegszeit, das Verständnis als Friedensmacht, Wandel durch Handel und „Nie wieder Krieg“. Ein „soul searching“ in Deutschland sei nun aus Sicht Dr. Cuperus im Gange, während die Großmächte USA und China miteinander im Machtwettbewerb stünden, eine „ruling power“ (USA) mit einer „rising power“ (China), was in der Geschichte immer Instabilität mit sich gebracht habe.
Die EU spiele dabei zwar als wirtschaftliche Supermacht mit, stünde mit den populistischen bzw. autoritären Bewegungen in Osteuropa, insbesondere in Polen und Ungarn, sowie den mit einer möglichen erneuten Euro-Krise vor ganz eigenen Herausforderungen, die einem Einheitsjubel entgegen stünden.
Da Europa per Definition politisch, kulturell, wirtschaftlich und verwaltungsmäßig zu divers und zu uneinig sei, sei eine erforderliche größere und stärkere Einheit Europas ohne Schaden am demokratischen Geist und der kulturellen Vielfalt anzurichten quasi nicht möglich. Daher forderte Dr. Cuperus ein nach außen starkes und nach innen bescheidenes Europas, um si eine Balance zwischen europäischer Stärke und nationaler Demokratie zu erreichen; kurz gesagt: Supermacht ja, Superstaat nein.
Widerspruch aus dem Publikum
Seine hier spezielle niederländische Perspektive brachte auch entsprechende Impulse bei den Zuhörerinnen und Zuhörern, insbesondere als aus seiner Sicht kein europäischer Bundesstaat das Ziel sein könne. Dass die FDP und die aktuelle Ampel-Koalition dies anders sehe, wurde nachdrücklich aus dem Publikum artikuliert.
Nicht weg von Europa, aber mit einer Neujustierung des Fokus reihte sich Christian Schmitz, Geschäftsführer der European Society for Digital Sovereignty in die Vortragsreihe ein. Digitale Souveränität beschrieb er aus seiner Sicht als „Versuch, alle kritischen Bereiche des digitalen Raumes zu erfassen, und bewusste Bewertungen und Entscheidungen bezüglich der digitalen Handlungsfähigkeit und Handlungssouveränität des Staats, der Wirtschaft und Bürger zu treffen“.
Geburt des „Cyber-Schollwers“
Aufbauend auf der Struktur der beiden Schollwer-Papier Betrieb Schmitz eine nüchterne Analyse der Situation. Der beleuchtete dabei den deutschen Aufbau der Cyberarchitektur, das bürokratische Verständnis des Aufbaus des Internet und die Realität, wie Cybernetzwerke heute tatsächlich strukturiert sind, die Einkommenssituation von IT-Fachleuten in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und den USA.
In der Bewertung kam Schmitz zur Auffassung, dass auf offizieller Seite eine Verantwortungsdiffusion herrsche, während der Wettbewerb strukturell verzerrt sei sowie die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland international nicht gegeben sei. Dennoch gebe es kein Problembewusstsein. Schmitz schloss als Konsequenzen mit einem Appell, dass u.a. der Staat Bürgern und Wirtschaft in Sachen Digitalisierung Vorfahrt lassen solle und es eine Reform durch echte digitale Verwaltungsprozesse statt schlechter Verwaltungsprozesse, die manchmal auch digital seien, benötige.
Diesen inhaltlich großen Spagat führte geschickt in der Diskussion die Moderatorin Dr. Ann Sophie Löhde wieder zusammen. Hier wurden, gemeinsam mit dem Publikum, die Untiefen nationaler, europäischer und Internationaler Herausforderungen mit ihren Rückwirkungen ausgemessen; sei es mit Bezug zu den europapolitischen Vorhaben der Ampel-Koalition, sei es mit Rückgriff auf Schollwers Rolle in FDP und Auswärtigen Amt.
Abschließend gilt der Dank allen Spenderinnen und Spendern, auch für die übergroße Anteilnahme, sowie dem Archiv des Liberalismus und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Ohne sie alle wäre dieses Symposium für Wolfgang Schollwer so nicht möglich gewesen.
Am Rande noch die Empfehlung einer Lektüre. Diese wurde am 13. August seitens des Archiv des Liberalismus vorgestellt. Der VLA hat sie mitfinanziert.